Staubwolken in Daraa nach Angriffen des Assad-Regimes
Seit Mitte letzter Woche greifen regimeloyale Truppen Daraa auch mit Raketen und Granaten an. Foto: Freedom4Daraa

Daraa al Balad: Assads Verbrechen gehen munter weiter

Die Eskalation in Daraa al Balad zeigt: Das Assad-Regime bleibt seiner altbekannten Strategie treu. Wo Widerstand erwächst, wird die Zivilbevölkerung bekriegt. In Daraa al Balad geht das Regime mit Hungerblockade, Granatbeschuss, Panzern und Scharfschützen gegen die Bevölkerung vor. Und die Welt? Tut so, als sei der Krieg schon vorbei.

Staubwolken in Daraa nach Angriffen des Assad-Regimes
Seit Mitte letzter Woche greifen regimeloyale Truppen Daraa auch mit Raketen und Granaten an. Foto: Freedom4Daraa

Schon seit dem 24 Juni 2021 gibt es wieder eine der für den Syrienkrieg so typischen Hungerblockaden: Regimeloyale Akteure riegelten den Stadtteil Daraa al Balad von der Außenwelt ab, damit keine Lebensmittel, Medikamente und andere überlebenswichtige Güter mehr zu den rund 50.000 Einwohner*innen des Stadtviertels gelangen. Auch die Strom- und Wasserversorgung wurde unterbrochen. Dabei ist Daraa schon seit 2018 nominell wieder vom Assad-Regime kontrolliert. Dass es innerhalb der Regime-Gebiete zu solchen Auseinandersetzungen kommt, ist beachtlich.

Seit Mitte letzter Woche setzt das Regime auch Panzer, Raketen, Granaten und Scharfschützen gegen das Stadtviertel ein. Videos zeigen heftige Explosionen, mittlerweile wurden bei Raketen- und Granatangriffen sowie durch Scharfschützen mehrere Zivilist*innen getötet, darunter auch einige Kinder. In den Sozialen Medien kursieren zahlreiche Bilder von Getöteten und Verletzten.

Zwischenzeitlich konnten zumindest einige der rund 50.000 Bewohner*innen zu Fuß aus der belagerten Region Daraa al Balad ins benachbarte Daraa al-Mahatta fliehen. Aufgrund von Angriffen durch u.a. iranisch finanzierte Milizen flohen einige der Familien wieder nach Daraa al Balad zurück.

In den vergangenen Tagen kam es immer wieder zu Kämpfen zwischen Regimekräften und oppositionellen Kämpfern, aber auch zu Verhandlungen zwischen den Aufständigen und Vertretern der russischen Armee. Unter anderem wurden von den oppositionellen Milizen zahlreiche Regime-Soldaten gefangen genommen und teils später in Folge von Verhandlungen wieder freigelassen.

Ob es irgendwann eine belastbare Verhandlungslösung gibt oder weitere Eskalationen, hängt vermutlich vom Taktieren der lokalen Bewaffneten ab und vielmehr noch von der Interesselage der russischen Regierung, die sich als Vermittler gibt, am Ende aber der  Alles entscheidende Akteur sein dürfte. Relativ sicher ist nur, dass das Assad-Regime bereit ist, die Orte mit aller Brutalität seiner Herrschaft zu unterwerfen – und dass die Konsequenzen für die als illoyal geltenden Bevölkerungsteile Daraas dann katastrophal sein dürften.

Zwei Lehren aus Daraa

In Daraa werden aktuell zwei Dinge deutlich: Zum einen greift das Regime wieder zu Taktiken, die sich aus dessen Sicht bereits mehrfach bewährt haben. Ob in Homs, Aleppo oder Ost-Ghouta: erst wird belagert und bombardiert, dann erfolgt eine „Einigung“ mit den bewaffneten Aufständigen, und dann stehen Bewaffnete, aber auch viele Zivilist*innen vor der Wahl, entweder in ihrer Stadt zu bleiben – und dabei Schikanen bis hin zu Folter und Tötung zu riskieren –, oder sich nach Nordsyrien vertreiben zu lassen. Die Straflosigkeit für diese seit bald zehn Jahren andauernden Kriegsverbrechen rächt sich einmal mehr.

Zweitens zeigt sich, dass es unter Assad weder mittel- noch langfristig Stabilität geben wird  – so sehr dies auch die Wunschvorstellung aller jener ist, die mit zynischem Fatalismus auf Syrien blicken. Was in Daraa passiert, ergibt sich zwar aus einem ganz besonderen regionalem Kontext, kann aber auch anderswo aufbrechen. Wer bislang dachte, der Syrien-Krieg sei zumindest jenseits der weiter umkämpften Teile Nordsyriens vorbei, wird feststellen müssen, dass Unterdrückung allein keine Stabilität bringt.

Hintergründe der Eskalation in Daraa

Die Hintergründe der Eskalation in Daraa sind komplex. Die Stadt, in der 2011 die Revolution gegen die Diktatur begann, stand bis Juli 2018 unter Kontrolle aufständiger Milizen. Als das Assad-Regime 2018 dank iranischer und russischer Unterstützung zahlreiche vormals oppositionell kontrollierte Regionen wieder einnahm, verhandelte Russland einen speziellen Deal für bestimmte Gegenden Daraas.

Dieser sah vor, dass das Assad-Regime nominell die Kontrolle über die Region zurückerhält, etwa aber die Geheimdienste des Regimes keinen unbeschränkten Zugang zur Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung erhalten. Die aufständigen Kämpfer durften ihre leichten Waffen behalten und wurden teils in das von Russland bezahlte und befehligte fünfte Armeecorps integriert. Ziel dieser russischen Strategie dürfte unter anderem sein, sich in der Region nahe der israelischen Grenze die Oberhand gegenüber iranisch finanzierten Milizen zu sichern, um international als Stabilitätsgarant zu erscheinen.

Proteste in Daraa gegen die Wahl im Mai 2021, bei der sich Assad mit angeblichen 95 Prozent für weitere sieben Jahre die “Präsidentschaft” sicherte. Foto: HFL

Der von Russland vermittelte Deal hat die Region jedoch nur teilweise befriedet: Schon seit 2018 gab es zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen. Untergrundkämpfer verübten eine große Zahl an Attentaten, vor allem gegen regimeloyale Bewaffnete und ehemals oppositionelle Akteure, die sich wieder dem Regime angenähert hatten. 

Rache für den Wahlboykott

Der prekäre Autonomiestatus ermöglichte auch der zivilen Opposition, sich gegen das Assad-Regime zu wenden. Weil Assads Geheimdienste aufgrund des speziellen Deals mit Russland in der Region nur sehr eingeschränkt tätig sein konnten, konnten Bewohner*innen Daraas immer wieder unbeschadet gegen das Assad-Regime demonstrieren – was in anderen Teilen Syriens, die unter voller Kontrolle des Assad-Regimes stehen, undenkbar wäre.

Ein großer Teil der Bevölkerung Daraas hat im Mai 2021 auch die syrischen Präsidentschaftswahlen boykottiert. Dabei kam es zu großen Protestaktionen gegen das Regime, ohne dass Assads Geheimdienste dort oppositionelle Aktivist*innen hätten verfolgen können. Die Belagerung von Daraa al Balad wird von vielen Syrer*innen als Rache des Regimes an der illoyalen Bevölkerung angesehen – getreu dem Motto des Regimes: Unterwerft Euch oder hungert.

Siehe auch:

COAR: Dar’a Deal Collapses amid Violent Regional Escalation, 2.8.2021

NZZ: Eskalation in Syrien: schwere Gefechte in «der Wiege der Revolutio», 30.7.2021

Guardian: Syria: Assad shells former opposition stronghold Deraa, 29.7.2021

The New Arab: Besieged and starved: How ‘the wheel of life’ has stopped in Syria’s Daraa, 27.7.2021

Global Voices: A decade after the first siege, Assad’s regime besieges Daraa, the cradle of the Syrian Revolution, 10.7.2021