Wir hätten uns lieber geirrt. Darin, dass heute nicht mehr Menschen in Zelten leben müssen als jemals zuvor in Nordsyrien. 90 Prozent der von den Erdbeben zerstörten Häuser und Infrastruktur konnten bis heute nicht wiederaufgebaut werden. Das, was noch steht, ist stark einsturzgefährdet. Vielerorts sind zwar die Trümmer beseitigt, doch sie sind neuen Zeltstädten gewichen. In ihnen sind die Bewohner*innen den Gezeiten schutzlos ausgeliefert. Erst im Januar kam es nach anhaltenden Regenfällen zu starken Überflutungen in Nordwestsyrien. Die Wassermassen rissen mehr als 1.500 Familienzelte einfach weg.
Im Winter sind die Bedingungen in den Camps lebensfeindlich. Die dünnen Zeltwände
Safa Kamel von der Fraueninitiative »KLYA« in Afrin
halten die Kälte nicht ab, es fehlt Holz zum Heizen. Selbst unter vielen Schichten Kleidung
ist man ständig durchgefroren. Viele sind erschöpft und werden krank. Deshalb kommt es im Winter in den Camps auch immer wieder zu Todesfällen.
Wir hätten uns lieber geirrt. Darin, dass internationale Hilfen nicht komplett eingestellt werden. Schon vor den Erdbeben war die Not in den betroffenen Gebieten sehr groß. Der Großteil der Menschen litt bereits unter Armut und an Hunger. 5,5 Millionen in Nordsyrien waren auf die Lebensmittelhilfen des Welternährungsprogramms angewiesen. Ende 2023 erreichte sie die Hiobsbotschaft, dass die UN ihr Hauptprogramm vollständig streichen wird. Grund dafür sei das Ausbleiben von bereits zugesagten Spendengeldern. Unsere Partner*innen in Afrin sehen sich schon jetzt mit den Folgen konfrontiert:
Die Grundsicherung bricht hier aktuell für Zehntausende Camp-Bewohner*innen weg. Was mich frustriert: Kurz nach den Erdbeben war Geld für schnelle humanitäre Hilfe da. Doch wo sind die Gelder für nachhaltige Projekte, die die Situation für die Menschen langfristig verbessern? Wir stecken seit den Erdbeben doppelt in der Krise, der Trend geht aber dahin, immer weniger Hilfe nach Syrien zu schicken.
Safa Kamel von der Fraueninitiative »KLYA« in Afrin
Wir hätten uns lieber geirrt. Darin, dass Assad und Russland den von den Erdbeben geschwächten Norden nicht noch intensiver bombardieren. Nicht genug, dass das syrische Regime Hilfslieferungen in die Region behindert, ab Oktober vergangenen Jahres weitete es seine Offensive in und um Idlib aus. Zum Einsatz kamen erneut völkerrechtlich geächtete Streumunition und Brandbomben. Unsere Partnerin Huda Khaity musste kurzzeitig fliehen. Sie verglich die schreckliche Situation sogar mit den furchtbaren Nächten, die sie in Ost-Ghouta durchlebte. Dort hatte das Assad-Regime 2018 flächendeckend Luftangriffe geflogen und Chemiewaffen mit dem Nervengas Sarin eingesetzt.
Um endlich die Hilfe zu erhalten, die wir eigentlich brauchen, um endlich aus dieser schrecklichen Situation herauszukommen und eine Zukunftsperspektive zu haben, muss Assad weg. Es gibt keine Lösung für die humanitäre Situation hier, solange es keinen Frieden gibt.
Huda Khaity vom Women and Empowerment Center Idlib