Als Deutschland im September den Vorsitz im Weltsicherheitsrat übernahm, schien es, als käme dessen Vertretung der seit Monaten herrschende Stillstand beim Thema Syrien sehr gelegen. So mussten keine ernsthaften Schritte gegen Assad vorgeschlagen werden, da diese doch mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Ablehnung durch China und Russland verdammt waren. Stattdessen konnte sich in emotionaler Rhetorik ergangen werden: Außenminister Westerwelle betonte nach seinem Besuch der jordanischen und türkischen Flüchtlingslager unermüdlich, dass es nicht um “ferne Ereignisse, statistisch gezählte Tote, mathematisch erfasste Flüchtlinge” ginge, sondern um echte menschliche Schicksale. Jetzt die Suche nach einer politischen Lösung aufzugeben, würde bedeuten, die Menschen in Syrien aufzugeben. Auch den Hinweis, dass Deutschland bereits 22 Millionen Euro für Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt habe, ließ Westerwelle selten fehlen. Praktische Schritte, die eine wirkungsvolle Unterstützung der syrischen Oppositionsbewegung hätten bedeuten können, blieben jedoch aus. Stattdessen standen die Zeichen der deutschen Syrienpolitik offensichtlich auf Mitleidsbekundungen und Verhandlungsführung ohne jede Konsequenz. Außerdem versprach Westerwelle dem UN-Sondergesandten Brahimi für seine Vermittlungsbemühungen “volle Unterstützung”.
Von der syrischen Opposition forderte Westerwelle wiederum, dass sie sich “unter einem gemeinsamen Dach zusammen findet und zu Demokratie, Toleranz und Pluralität bekennt” und eine Übergangsregierung bildet. Erst dann will Deutschland tätig werden, wobei er seine Aufgabe vor allem darin sieht, die demokratischen Kräfte zu professionalisieren. Diese Konzentration auf die Zeit eines syrischen “Neuanfangs” ist selbstredend vielversprechender, als in die gegenwärtige Auseinandersetzung aktiv einzugreifen. Um eine mögliche wirtschaftliche Neuordnung Syriens nach dem erhofften Ende des Assad-Regimes mit eigener Beteiligung zu planen, hat die Bundesregierung schon Anfang 2012 Kontakte zu syrischen Oppositionellen aufgenommen. Das resultierte zum einen in Arbeitsergebnissen wie das “The Day After”-Projekt, welches einen ausführliches Diskussionspapier für den Transformationsprozess eines späteren Syriens darstellt. Auch wurde die “AG Wirtschaft und Wiederaufbau der Freunde des syrischen Volkes” gegründet, die Anfang September in Berlin, unter Leitung Deutschlands und der Vereinigten Arabischen Emirate, tagte. Eigene Sofortmaßnahmen zur medizinischen und infrastrukturellen Versorgung der Opposition zu entwickeln, war offenbar von minderem Interesse. Wie heißt es doch so schön in den von der schwarz-gelben Bundesregierung erarbeiteten Leitlinien “Für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten”:
“Das Engagement der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten […] ist ebenso wertegeleitet, wie es deutsche Interessen berücksichtigt. Dabei wird das eigene Engagement stets auch geleitet von der Frage des Mehrwerts und der Wirksamkeit im Konzert anderer Akteure.”
Die Diskrepanz zwischen auf Taten drängender Rhetorik und tatsächlich wirksamen Maßnahmen erklärt sich folglich aus der deutschen Interessenpolitik. Während die Bevölkerung meist als Faustpfand für Anklagereden gegen das Assad-Regime herhalten muss, bestehen die deutschen Interessen maßgeblich darin, sich für spätere Zeiten gut zu positionieren.
Die damit nur scheinbare Paradoxie, einerseits für die Zeit nach einem demokratischen Umbruch zu planen, ohne andererseits der Opposition, die eben diesen herbeiführen soll, zu unterstützen, spiegelte sich auch in Westerwelles Einführungsrede im Rahmen des AG-Treffens wider. Zunächst verlangte er erneut von der Opposition, dass sie unbedingt eine demokratische, tolerante, pluralistische Plattform gründen müsse. Zugleich befand er: “[…] our working group cannot limit itself to post-conflict planning. We cannot wait for the fall of Assad, we must act now.” Das sofortige Handeln blieb allerdings weiterhin aus. Indem die Einigkeitsbedingung stets aufs Neue an die Opposition gerichtet wurde und Westerwelle zugleich Russland und China immer wieder öffentlichkeitswirksam kritisierte, weil sie die UN-Resolutionen zu Syrien blockierten, ließ sich die Verantwortung leicht auf andere projizieren.
Diese Abwälzungsstrategie wird indirekt von den meisten Medien gestützt, die Westerwelles Frustration über Syrien, seine Angst vor einem “Flächenbrand in der Region” sowie Lakhdar Brahimis Einschätzung eines “vollwertigen Bürgerkrieges” massenhaft reproduzieren und nur noch von einem “unlösbaren”, “aussichtslosen” Konflikt sprechen. Über die um sich greifende Resignationsstimmung hinsichtlich Syrien geraten der bisherige Freiheitskampf in Syrien sowie dessen fortschrittlichen Ansätze zunehmend in Vergessenheit. Entsprechend gering fällt der Handlungsdruck – nicht nur für die Bundesregierung – aus, sondern auch für alle übrigen möglichen politischen Akteure, die sich für die syrische Opposition engagieren könnten. Und diejenigen, die sich in Syrien weiterhin für mehr Freiheit und eine bessere Zukunft einsetzen, die einmal den demokratischen Wiederaufbau leisten könnten, bleiben immer häufiger auf der Strecke. Entweder sterben sie in den Gefechten mit dem Assad-Regime oder sie werden zunehmend von Islamisten verdrängt, die Geld und Waffen aus Katar oder Saudi-Arabien erhalten. Dies wirft schlussendlich die Frage auf, ob die deutsche Regierung wirklich eine demokratisches System als Zielvorstellung hat, oder sich insgeheim auch mit einem autoritären Regime abzufinden bereit wäre. Bedingung wäre natürlich, dass die neue Regierung über mehr Rückhalt in der Bevölkerung (und damit eine längere Halbwertszeit) verfügt und gleichzeitig bereit und fähig ist, die Ressourcen des Landes, an der Mehrheit vorbei, zwischen westlichen Firmen und dem eigenen Personal aufzuteilen.
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