Wir dokumentieren einen offenen Brief, der von 44 renommierten ÄrztInnen initiiert wurde, um auf die katastrophale medizinische Versorgung in Syrien aufmerksam zu machen. Er erschien im angesehenen medizinischen Journal The Lancet.
Der Konflikt in Syrien ist inzwischen wohl eine der weltweit größten humanitären Katastrophen seit Ende des Kalten Krieges. Die Zahl der Todesopfer, die meisten davon Zivilistinnen und Zivilisten, wird auf 100.000 Menschen geschätzt. Eine noch weitaus größere Zahl wurde verwundet, gefoltert oder misshandelt. Millionen Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben, Familien wurden auseinandergerissen und ganze Gemeinden zerstört. Wir dürfen uns durch eine mögliche militärische Intervention nicht davon abbringen lassen den Menschen in Syrien zu helfen.
Wir, als Ärztinnen und Ärzte aus aller Welt, sind über dieses Ausmaß an Elend und Not zutiefst erschüttert. Wir sind bestürzt über die fehlende ärztliche Versorgung der betroffenen Zivilbevölkerung und die vorsätzlichen Angriffe auf medizinische Einrichtungen und deren Personal. Wir haben die berufliche, ethische und moralische Verpflichtung, allen eine medizinische Behandlung und Versorgung zukommen zu lassen, die dieser bedürfen. Wenn die Umstände es nicht erlauben, persönlich aktiv zu werden, sind wir dazu verpflichtet das Wort für diejenigen zu ergreifen, die ihr eigenes Leben riskieren, um andere zu retten.
Systematische Angriffe auf Ärztinnen und Ärzte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Krankenhäuser und Patientinnen und Patienten zerstören das syrische Gesundheitssystem und machen selbst eine grundlegende medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung nahezu unmöglich. 37 % der syrischen Krankenhäuser sind zerstört und weitere 20 % wurden schwer beschädigt. Behelfskliniken sind mittlerweile zu vollwertigen Traumazentren geworden, die versuchen dem Ansturm von Verletzen und Kranken zu bewältigen. Geschätzte 470 medizinische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind zurzeit inhaftiert und rund 15 000 Ärztinnen und Ärzte wurden zur Flucht ins Ausland gezwungen. Laut eines Berichtes gab es vor dem Ausbruch des Konfliktes rund 5000 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in Aleppo, davon sind lediglich 36 noch in der Stadt.
Die gezielten und systematischen Angriffe auf medizinische Einrichtungen und deren Personal sind weder eine unvermeidliche noch akzeptable Konsequenz des bewaffneten Konflikts, sondern ein skrupelloser Verrat an den Prinzipien der medizinischen Neutralität.
Der exponentielle Anstieg der Anzahl von Menschen, die einer medizinischen Versorgung bedürfen ist eine direkte Folge des Konflikts und auch indirekte Konsequenz der Zerstörung des einst guten öffentlichen Gesundheitswesens und des damit verbundenen Mangels an angemessener kurativer und präventiver Versorgung. Schwerste Verletzungen bleiben unbehandelt, Frauen bringen Kinder ohne medizinischen Beistand zur Welt, Männer, Frauen und Kinder müssen lebensrettende Operationen ohne Anästhesie überstehen und Opfer sexualisierter Gewalt haben niemanden an den sie sich wenden können.
Die syrische Bevölkerung ist durch Ausbrüche von Hepatitis, Typhus, Cholera oder Dysenterie gefährdet. Der Mangel an Arzneimitteln hat bereits den Ausbruch einer kutanen Leishmaniose verschärft, einer schweren, infektiösen Hautkrankheit, die zu ernsthaften Behinderungen führen kann. Es gab einen alarmierenden Anstieg von Fällen mit akuter Diarrhö und im Juni berichteten Hilfsorganisationen von einer Masernepidemie im Norden Syriens. In einigen Gebieten konnten Kinder, die seit dem Ausbruch des Konflikts geboren wurden, nicht geimpft werden. Dadurch sind inzwischen die Voraussetzungen für eine Epidemie gegeben, die sich von keiner Landesgrenze aufhalten lässt.
Angesichts des drohenden Zusammenbruchs des syrischen Gesundheitswesens haben unter chronischen Krankheiten, wie beispielsweise Krebs, Diabetes, Bluthochdruck und Herzkrankheiten leidende Patientinnen und Patienten, die auf eine Langzeitversorgung angewiesen sind, keine Chance auf eine zumindest grundlegende medizinische Versorgung.
Den Großteil der medizinischen Hilfe leistet syrisches medizinisches Personal, dieses hat aber mit außerordentlich gefährlichen Bedingungen und einem massiven Versorgungsbedarf zu kämpfen. Staatliche Restriktionen in Verbindung mit der Inflexibilität und Bürokratie des Systems der internationalen Hilfsorganisationen verschlimmern die Situation noch weiter. Das hat dazu geführt, dass große Teile von Syrien von jeglicher medizinischen Versorgung vollständig abgeschnitten sind.
Medizinerinnen und Mediziner sind verpflichtet, jeden Menschen nach besten Fähigkeiten zu behandeln. Allen verwundeten oder kranken Personen muss der Zugang zu ärztlicher Versorgung ermöglicht werden.
Als Ärztinnen und Ärzte fordern wir nachdrücklich, dass den Kolleginnen und Kollegen in Syrien die Behandlung von Patientinnen und Patienten, das Retten von Leben und die Linderung von Leiden ohne Angst vor Angriffen oder Repressalien gestattet wird und sie in ihrer Arbeit unterstützt werden.
Um die Auswirkungen dieses Konflikts auf die Zivilbevölkerung zu lindern und die gezielten Angriffe auf das Gesundheitssystem zu beenden, sowie zur Unterstützung unserer Kolleginnen und Kollegen appellieren wir an:
- die syrische Regierung und alle bewaffneten Konfliktparteien, alle Angriffe auf Krankenhäuser, Krankenwagen, medizinisches Personal sowie Patientinnen und Patienten zu unterbinden, und an die syrische Regierung die Täter, die solche Angriffe verüben gemäß den international anerkannten Standards zur Rechenschaft zu ziehen und allen Menschen den Zugang zu ärztlicher Versorgung zu ermöglichen.
- alle bewaffneten Parteien, die humanitäre Arbeit von Medizinerinnen und Medizinern sowie die medizinische Neutralität zu respektieren, indem sie davon absehen den ordnungsgemäßen Ablauf von medizinischen Einrichtungen zu stören und Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal die Behandlung aller Menschen die einer ärztlichen Versorgung bedürfen, gewähren;
- Regierungen, die Parteien in diesem Bürgerkrieg unterstützen, diese aufzufordern alle Angriffe auf medizinisches Personal, Einrichtungen, Patientinnen und Patienten und medizinische Hilfsmittel einzustellen und zu ermöglichen, dass benötigtes medizinisches Material und eine angemessene ärztliche Versorgung die syrischen Bürgerinnen und Brüger auch über den Frontverlauf und die Landesgrenzen von Syrien hinweg erreichen;
- die Vereinten Nationen und internationale Geber, ihre Unterstützung des syrischen Gesundheitswesens in Regierungs- sowie Oppositionsgebieten zu verstärken, in denen Ärztinnen und Ärzte und medizinische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich seit dem Ausbruch des Konflikts in Lebensgefahr bringen, um zumindest eine grundlegende medizinische Versorgung sicherstellen.