Anders sein im revolutionären Aleppo – Marcell Shehwaro

Nachdem ich eineinhalb Monate in den befreiten Gebieten gelebt habe, möchte ich nun über meine persönlichen Erfahrungen berichten; besonders darüber, wie es für mich war, anders – weltlich und nicht konservativ – zu sein, als die mich in den befreiten Gebieten umgebenden Leute. Ich bin eine auffällige Person; mein Körper, meine Haare, meine Kleidung und […]

Nachdem ich eineinhalb Monate in den befreiten Gebieten gelebt habe, möchte ich nun über meine persönlichen Erfahrungen berichten; besonders darüber, wie es für mich war, anders – weltlich und nicht konservativ – zu sein, als die mich in den befreiten Gebieten umgebenden Leute. Ich bin eine auffällige Person; mein Körper, meine Haare, meine Kleidung und auch die Art, wie ich spreche –  das alles deutet daraufhin, dass ich anders bin als die Menschen, die mich umgeben.

Am Anfang der Revolution, während ich in Bustan Al-Qasr (Aleppo) protestierte, habe ich immer einen Schleier getragen. Ich hatte viele Gründe dafür, manche waren sozialer Natur, andere betrafen meine Sicherheit. Ungeachtet dessen bin ich davon überzeugt, dass in dieser sensiblen Phase der Revolution das Bewahren meiner Persönlichkeit als eine unverschleierte Frau Teil meiner  Revolution ist, insbesondere, da ich eine Tochter der Revolution bin. Gleichzeitig bin ich von Menschen umgeben, die um ihre persönlichen Freiheiten als religiös unterschiedliche Menschen besorgt sind, und die viele Fragen darüber haben, wie sie unter der Freien Syrischen Armee zusammen leben können.

Seit dem Beginn der Befreiung habe ich darauf bestanden, meinen Kopf nicht unter einem Schleier zu verbergen, nur um der Laune der Bewaffneten zu entsprechen.

Die Freie Armee muss die Vielfalt und die Verschiedenheit in Syrien akzeptieren; denn die, die anders sind, müssen sich nicht verändern, um den Wünschen der Freien Armee und den Bewaffneten zu entsprechen.

Was die Zivilisten angeht, die die SyrerInnen selbst sind – es hat sich nichts geändert, niemand wurde extremistisch oder dumm, und niemand hat mich auch mit nur einem einzigen Wort belästigt. Anfangs war ich für sie etwas fremd, da ich nicht aus der Gegend stamme, aber dieses Gefühl verblasste mit der Zeit.

Was die Checkpoints angeht: Keiner von den Kontrollpunkten innerhalb der Stadt [Aleppo] hat mich aufgehalten; außer einem, der von dem (islamistischen) Sharia-Komitee bemannt ist, manchmal mit Befehl und manchmal mit Gewalt – das letzte Mal hat mich ein Mann gezwungen, aus dem Taxi auszusteigen und wollte mir eine Moralpredigt halten, da gerieten wir aneinander…

Auf dem Land sind die Männer an manchen Kontrollpunkten, vor allem die vom „Staat“ (Islamischer Staat in Irak und Syrien, ISIS), einfach zu dreist: Einmal haben die ISIS-Männer versucht, mich in einer entlegenen Gegend aus dem Auto zu zitieren, nur weil ich keinen Schleier getragen habe; ein anderes Mal ist einer verrückt geworden und ließ den ganzen Bus aufhalten, nur weil mein Haar unordentlich war. Dafür ist man an den Kontrollpunkten von Aleppo bis Gaziantep sehr nett, sie sind meist von der at-Tawhid-Brigade bemannt.

Was die “konfessionelle Sicherheit” betrifft (um es mal so auszudrücken): Ich musste mir nie Sorgen darüber machen, meinen Ausweis zu benutzen – auch wenn mir manche rieten, einen anderen Ausweis zu benutzen! [Anm.: Aus dem syrischen Ausweis lässt sich die Religionszugehörigkeit erkennen, d.h. in Shehwaros Fall, dass sie Christin ist.] Ich unterschätze nicht das Risiko, dem einige Minderheitskonfessionen ausgesetzt sein mögen, aber ich selbst habe mich nie gefährdet gefühlt.

Jedes Mal, wenn es mit den bewaffneten Leuten Schwierigkeiten gab, habe ich gezögert, darüber zu schreiben: Ganz einfach aus dem Grund, weil ich nicht als das “unterdrückte christliche Mädchen” abgestempelt werden möchte. Denn so ist es nicht. Ein Kontrollpunkt, der mir Ärger wegen meinen Haaren macht, verursacht auch vielen anderen Ärger. Das, womit wir dort konfrontiert werden, ist keine konfessionelle Diskriminierung, sondern pure Schamlosigkeit der wachhabenden Männer. Dies liegt an ihren Waffen, ihrer Respektlosigkeit gegenüber Zivilisten und ihrem Glauben, sie wären die Wächter von irgendwem.

Ein anderer Grund dafür, dass ich nicht über den Ärger an den Kontrollpunkten schreiben möchte: Ich will nicht, dass jemand glaubt, die Revolution in Aleppo sei lediglich irgendein Mann an einem Kontrollpunkt, der mich wegen meines nicht vorhandenen Schleiers belästigt. Denn die Revolution in Aleppo sind die 300 bis 400 Leute, die gegen diesen Mann protestieren und zu ihm “Nein!” sagen würden, wenn er etwas Schlimmes gewagt hätte. Und ich spüre deutlich, dass ich durch Aleppos Rebellen in Sicherheit bin.

Der dritte Grund ist der, dass ich mich weniger über die bewaffneten Männer ärgere, sondern eher über die weiblichen Aktivistinnen, die ihnen Gehorsam leisten, unter dem Vorwand “Lasst uns bloß jeden Ärger vermeiden”!!! Wenn wir weibliche Aktivistinnen jeden Ärger vermeiden und in Schweigen verbleiben würden, dann würden die Männer von solchen Kontrollpunkten künftig die Stimmlosen und die Zivilisten unterdrücken, die Angst haben – und niemand würde wissen, was da vor sich geht.

Vielen meiner alten Freunde, die mich fragten, ob es für jemand “andersartigen” möglich sei, in den von Rebellen dominierten Gegenden zu leben, antworte ich: Ja, es ist möglich! Und sogar sehr gut möglich, mit etwas Vertrauen in die Mehrheit der SyrerInnen, mit dem Anspruch, Rechte zu respektieren, und mit ein bisschen Anstrengung… es ist möglich, vollkommen möglich. Es ist wichtig, zu bleiben und zu kämpfen; nicht den Glauben daran zu verlieren, dass viele Menschen es nicht akzeptieren, dass wir unterdrückt werden.

Und die Sharia-Kontrollpunkte, der ISIS und ähnliche – möge Gott euch erhellen, dass die Menschen nicht weiter plagt und bevormundet.

Jemand hat an eine Wand in Aleppo diese beeindruckenden Worte gesprüht: “Lieber Dschihad-Bruder, es ist eine Schande, mit den Shabiha* verglichen zu werden”.

* äußerst berüchtigte, gewalttätige Schlägertrupps des Regimes

Dieser Beitrag wurde bereits im Juli 2013 von der syrischen Aktivistin Marcell Shehwaro bei Facebook verfasst, im arabischen Original. Der obige Text ist eine Übersetzung aus dem Englischen, die ebenfalls bei Facebook veröffentlicht wurde. Die deutsche Übersetzung hat ein Aktivist von Adopt a Revolution erstellt.