Aufbau langfristiger Strukturen und die Israelkarte

Mitten in unserer Arbeit erreichte uns heute eine merkwürdige Anfrage: eine Aktivistin aus Syrien die seid längerer Zeit im Untergrund ist, konnte in ihr neues Versteck nicht ihre Katzen mitnehmen. Etwas verzweifelt darüber, was nun mit ihren Katzen passieren sollte, erzählte sie es ihrer Freundin, die wiederum uns anfragte, ob wir nicht jemanden bitten könnten, […]

Mitten in unserer Arbeit erreichte uns heute eine merkwürdige Anfrage: eine Aktivistin aus Syrien die seid längerer Zeit im Untergrund ist, konnte in ihr neues Versteck nicht ihre Katzen mitnehmen. Etwas verzweifelt darüber, was nun mit ihren Katzen passieren sollte, erzählte sie es ihrer Freundin, die wiederum uns anfragte, ob wir nicht jemanden bitten könnten, die Katzen aufzunehmen. Vor dem Hintergrund, dass inzwischen in Syrien über tausend Menschen von Sicherheitskräften erschossen wurden, Gräber mit unbekannten Leichen aufgetaucht sind, viele hunderte Menschen vermisst und tausende noch verhaften sind, mutet es geradezu absurd an, dass wir uns um Orte für Katzen kümmern sollen. Gleichzeitig sind es natürlich solche Alltagsgeschichten, die für die Betroffenen, die sich im ständigen Ausnahmezustand befinden, eminent wichtig sind. Das Risiko, das die AktivistInnen in Syrien eingegangen sind und eingehen, wird hier noch einmal in einer ganz anderen Weise plastisch.

Die Geschichte ist aber auch symbolisch für den Wandel des Protestes in Syrien. In
den letzten Wochen ist klar geworden, dass der syrische Frühling, anders als der
in Tunesien oder Ägypten, sich nicht zu einem Momentum entwickelt, wo der Kalender
einfach weggeworfen werden kann, um alles auf die Karte des schnellen Umbruches zu
setzen. Vielmehr wird der spontane Aufstand der ersten zwei Monate nun langsam
abgelöst durch den Aufbau von hoffentlich langfristig tragfähigen Strukturen. So
haben sich inzwischen fünfzehn lokale Komitees (siehe ‘Royal Wedding statt
Revolution’) zusammen geschlossen, es gab eine gemeinsame Absage an Gespräche mit
Assad und es gibt sogar eine erste Webseite www.lccsyria.org. Auch andere Teile
der Opposition koordinieren sich langsam besser. So wird es z.B. nächste Woche
eine große Konferenz von vornehmlich Exilsyrern in der Türkei geben, bei der es
auch um eine weitere Vernetzung geht. Auch wenn dies alles erst kleine Anfänge
sind, ist es umso wichtiger diese Strukturen jetzt aufzubauen. Denn nicht mehr der
jeweils nächste Freitag wird über den Fortbestand des Aufstands entscheiden,
sondern vielmehr die Frage, ob Strukturen aufgebaut werden können, die diesen
Protest die nächsten Monate am Leben halten.

Eine Lösung der momentanen Pattsituation – zwischen den Demonstrant/innen, die es
nicht schaffen eine bedeutsamere Anzahl von Menschen in Aleppo und Damaskus zu
mobilisieren und der Regierung, die es nicht schafft die sehr hartnäckigen und
sich ausweitenden Proteste im ganzen Land zu unterdrücken – scheint keine Sache
von Wochen als vielmehr von Monaten zu sein. Im Gegensatz zum Iran, wo durch die
staatliche Strategie von Massenverhaftungen und Folter die grüne Revolution
wirksam niedergeschlagen zu sein scheint, hat Assad es glücklicherweise bisher
nicht geschafft, trotz anfänglicher Erfolgen mit dieser Strategie (siehe Eintrag
vom Anfang Mai 2011), die Proteste unter Kontrolle zu bringen. Eine Ursache
hierfür ist sicher die Tatsache, dass der Protest sich anders als im Iran, Ägypten
und Tunesien nicht in den Zentren abspielt sondern über das ganze Land verteilt
ist. Allein am letzten Freitag gab es Demonstrationen in über 50 Orten in ganz
Syrien (siehe www.lccsyria.org/background). Das Assad-Regime hat erkannt, dass
ihre Strategie der Massenverhaftungen keinen durchschlagenden Erfolg hatte. Das
lässt sich auch daran erkennen, dass leider die Sicherheitskräfte wieder massiv
auf Demonstrant/innen schießen. Hatte das Regime noch vor zehn Tagen seine Stärke
zu zeigen versucht durch die Ankündigung, nicht mehr auf Demonstrant/innen zu
schießen, so starben allein am letzten Wochenende wieder über 70 Demonstrant/innen
durch gezielte Schüsse der Sicherheitskräfte.

Auch wenn das Assad Regime vorerst keine erkennbare Strategie hat, wie es den
Protesten begegnen will, wäre es naiv darin bereits einen entscheidenden Erfolg
der Demonstrant/innen zu sehen. Und es wäre fahrlässig, den Willen zum Machterhalt
und die Stärke dieses Regime zu unterschätzen. Der direkte Einfluss der USA und
der EU sind gering, selbst wirtschaftliche Sanktionen dieser Länder gegen Syrien
werden wenig ausrichten. Spätestens seit der internationalen Isolierung durch
Bushs Benennung Syriens als Teil der Achse des Bösen im Jahr 2003 hat Syrien seine
Unabhängigkeit vom Westen forciert und ein neues Bündnissystem aufgebaut.
Politisch sind es vor allem die engen Beziehungen zur Schutzmacht Iran, die
Unterstützung der schiitischen Hisbollah im Libanon und die Allianz mit der
sunnitischen Hamas im Gazastreifen, die Syrien zum zentralen Akteur im nahen Osten
hat werden lassen. Als vor zehn Tagen die Palästinenser zum ersten Mal massiv in
die Grenzregionen von Israel zu Libanon und Syrien vordrangen, war dies ein klares
Zeichen des Assad-Regimes – ohne seine Zustimmung und der verbündeten Hisbollah
hätte der Angriff nicht stattgefunden. Die Botschaft war einfach: ohne uns wird es
auch keine Absprachen mit Israel und keine Stabilität in Israel geben. Es ist
nicht auszuschließen, dass Assad erneut versuchen wird die Israelkarte
auszuspielen – in zwei Wochen sind neue Proteste der Palästinenser angekündigt.

Neben dem Iran und anderen arabischen Ländern (allen voran Saudi-Arabien und
Libanon) ist es vor allem die Türkei, die wirtschaftlich für Syrien in den letzten
Jahren immer wichtiger geworden ist. Insbesondere für die Mittelschicht in Syrien
hat das vor ein paar Jahren abgeschlossene Freihandelsabkommen viele
wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet. Einer der effektivsten Wege der EU, den
Druck auf Syrien zu verstärken, wäre die Einforderung einer deutlicheren
Positionierung Ankaras in diesem Konflikt. Denn wirtschaftliche Konsequenzen der
Türkei könnten für Assad gefährlich werden. Dies könnte die Pattsituation zu
Gunsten der Proteste verändern, da sich die Mittelschicht in Damaskus und Aleppo
aufgrund solcher Maßnahmen nicht mehr aus den Protesten heraushalten könnten.

Die vielen Proteste der letzten Woche, die weiter wachsende Anzahl von
Demonstrationen und die Verbesserung der Vernetzung haben mich zuversichtlich
gemacht, dass dem syrischen Frühling auf jeden Fall noch ein syrischer Sommer
folgen wird.