Mariam Younes, Forscherin und Aktivistin:
“Der Libanon ist das einzige Land der Welt, in dem die Menschen nicht dort wählen, wo sie leben, sondern dort, wo sie registriert sind, was dem Ort entspricht, an dem ihr Vater oder Ehemann registriert ist. Das konfessionelle, klientelistische politische System basiert im Wesentlichen auf diesem Prinzip – und erleichtet damit ehrleblich jede Art von familiärem oder konfessionellem Wahldruck. Das Dorf in dem ich registiert bin – also das Dorf meines Vaters – liegt im Süden des Libanon und ist konfessionell gemischt.”
Politisch gab es in den letzten Jahren keine großen Überraschungen. Die politischen Sitze werden zwischen den drei bestehenden konfessionellen Gruppen und ihren politischen Vertretern aufgeteilt, das heißt Hisbollah/Harakat Amal, die libanesischen Streitkräfte und die Freie Patriotische Bewegung. Noch nie hatte eine seriöse Alternativliste es gewagt, hier irgendwelche Kandidat*innen zu nominieren. Diesmal hatten wir drei Listen, die alternativ und unabhängig waren und sich für Veränderung eingesetzt haben.
Das allein hat mein Interesse geweckt und ich habe angefangen mich darüber zu informieren. Ich habe auch die Option eines Boykotts der Wahl in Betracht gezogen, da das libanesische politische System es nicht verdient, dass wir ihm irgendeine Legitimität verleihen, aber ich denke, ein Boykott kann keine individuelle Entscheidung sein, es muss eine starke kollektive Entscheidung sein, eine starke radikale Bewegung.
„Das bestärkte mich in meiner eigenen Entscheidung und ich fing an, mich auf die Wahlen zu freuen. Am Ende bekam „meine“ Liste drei Sitze und war die stärkste Liste im ganzen Bezirk. Das wird das Land nicht verändern, aber es war ein symbolischer Sieg, der den Menschen wieder Hoffnung gegeben hat.“
Mariam Younes
Derzeit sind wir nicht an diesem Punkt im Libanon, wir sind verzweifelt, müde und hoffnungslos. Meine endgültige Entscheidung zur Wahl fiel, als ich mit Mitgliedern meiner Familie sprach, die in den letzten Jahren nie gewählt hatten und die sagten, sie würden dieses mal wählen gehen und für eine der Oppositionslisten stimmen. Das bestärkte mich in meiner eigenen Entscheidung und ich fing an, mich auf die Wahlen zu freuen. Ich habe viel diskutiert und nachgedacht, bevor ich mich entschieden habe, wen ich wähle.
Am Ende habe ich mich für eine strategische Wahl entschieden und habe für eine Liste und eine Person gestimmt, mit der ich mich teilweise identifizieren kann und die tatsächlich Chancen auf ein oder zwei Sitze hat. Am Ende bekam „meine“ Liste drei Sitze und war die stärkste Liste im ganzen Bezirk. Das wird das Land nicht verändern, aber es war ein symbolischer Sieg, der den Menschen wieder Hoffnung gab.
Zu sehen wie viele Parteien an der Macht Strategien der Bestechung, Einschüchterung und des familiären Drucks nutzen um gewählt zu werden, hat mir gezeigt, wie gescheitert das libanesische demokratische System ist, aber wie mutig viele Menschen waren, die sich tatsächlich entschieden haben, sich diesen Strategien zu widersetzen.“
Nidal Ayoub, feministische Aktivistin:
„Wahlen in ihrer jetzigen Form und das Wahlrecht sind das Spiel des Systems. Wahlen sind ein Spielplatz für das Regime. Die Teilnahme an den Wahlen bedeutet für mich, ihnen Legitimität zu verleihen. Obwohl es einigen [Kandidat*innen der Opposition] gelungen ist, Sitze zu ergattern wird ihre Anwesenheit jedoch nichts ändern. Außerdem haben wir weder über den Hintergrund der Oppositionskandidat*innen noch über ihre Rhetorik gesprochen, die nicht einmal die Mindestforderungen beinhaltet, die während der Straßenrevolution erhoben wurden.
Sie haben weder über Frauenrechte noch über Rassismus oder ihre Haltung gegenüber Flüchtlingen gesprochen – LGBT*-Rechte existierten überhaupt nicht. Und bei den LGBT*-Themen war es sogar das Gegenteil. Einer der Kandidaten, die im Namen der Opposition kandidiert hat, hat eine Erklärung gegen Homosexualität und gegen die Zivilehe abgegeben.
Manche Leute denken, dass sie zwischen schlecht und schlimmer wählen sollten, daran glaube ich nicht. Im Libanon werden die Wahlen nichts ändern. Sie wenden Energie, Mühe und Hoffnung am falschen Ort auf. All unsere bisherigen Experimente haben mich das gelehrt. Ich weiß nicht mehr, für wen dieses Zitat gilt, aber jemand hat gesagt: „Wenn die Abstimmung etwas ändern würde, würden sie es illegal machen“.
Ich glaube, dass der Wandel im Libanon von der Straße aus geschehen wird und nicht von ein paar Sitzen, die von der „Opposition“ errungen wurden, die nicht einmal meine niedrigsten Träume und Bestrebungen für dieses Land repräsentiert – weder in ihrer Sprache noch in ihrer gesellschaftlichen Klasse. Ich glaube nicht, dass die geringe Wahlbeteiligung mit dem Hariri-Boykott zusammenhängt. Auch bei der letzten Wahl war die Beteiligung gering.
Eine letzte Sache noch: Während die Libanes*innen wählen, besteht für die Palästinenser*innen und die syrischen Geflüchteten eine Ausgangssperre.“
Abd (Namen geändert), Aktivist bei Syrian Eyes :
“Jeder, der im Libanon lebt, hat auf diese Wahlen gewartet und sie eng verfolgt, denn alle werden von den Ergebnissen betroffen sein – die Libanes*innen, aber auch die Syrer*innen und Palästinenser*innen. Mich, als syrische Person, die seit fünf Jahren hier lebt, trieb vor allem die Angst und Befürchtung um, dass die Parteien, die an den Wahlen teilgenommen haben, weiteren Rassismus gegen Syrer*innen schüren werden, um Stimmen für sich zu gewinnen.
Ein weiterer Grund für meine Besorgnis war die schlechte wirtschaftliche Situation im Libanon, die dazu hätte führen können, dass es während der Wahlen auch zu Gewaltausbrüchen kommt. Ich habe mir alle Wahllisten und -programme sehr genau angeschaut und den Wahlkampf sehr genau beobachtet, und wenn ich hier ein Wahlrecht hätte, dann gäbe es auf jeden Fall Kandidat*innen, die anderen vorziehen würde.
“Am Ende des Tages sind wir alle mit den gleichen unterdrückerischen Systemen und Regimen konfrontiert, die keinerlei Verantwortung für das Leben der Menschen übernehmen. Wir alle brauchen eine grundlegende und echte politische Veränderung und wir alle streben nach den denselben Rechten.”
Abd, Syrian Eyes
Wenn ich ein Wahlrecht hätte, dann wäre ich auf jeden Fall wählen gegangen, denn wir als Syrer*innen und Palästinenser*innen empfinden große Sympathie für die Libanes*innen, die Menschen hier, und wünschen ihnen auf jeden Fall eine Veränderung zum Besseren. Denn am Ende des Tages sind wir alle mit den gleichen unterdrückerischen Systemen und Regimen konfrontiert, die keinerlei Verantwortung für das Leben der Menschen übernehmen. Wir alle brauchen eine grundlegende und echte politische Veränderung und wir alle streben nach den denselben Rechten.”
Sophie Bischoff (Adopt a Revolution):
“Aus einem syrischem Blickwinkel erfreulich und bemerkenswert ist die Abwahl von mehreren traditionell pro-syrischen Politikern, wie Wiam Wahab und Talal Arslan, die jahrelang wichtige Verbündete der Hisbollah und des Assad-Regimes im Libanon darstellten. In einer gewissen Form deutet das auf eine Zeitenwende hin.”