Die neue (Iran) Strategie Syriens

Seit gut 10 Tagen erleben wir einen massiven Strategiewandel im staatlichen Umgang mit den Demonstrationen in Syrien. Sicherlich überrascht von Umfang und Ausdauer der Demonstrationen´reagierte das Assad-Regime zunächst mit einem Mix von nur vorgetäuschter Dialogbereitschaft und dem Einsatz von Schusswaffen gegenüber den Demonstrant/innen. Anstatt jedoch die gewünschte Abschreckung durch die Toten zu erzielen, wuchsen die […]

Seit gut 10 Tagen erleben wir einen massiven Strategiewandel im staatlichen Umgang mit den Demonstrationen in Syrien. Sicherlich überrascht von Umfang und Ausdauer der Demonstrationen´reagierte das Assad-Regime zunächst mit einem Mix von nur vorgetäuschter Dialogbereitschaft und dem Einsatz von Schusswaffen gegenüber den Demonstrant/innen. Anstatt jedoch die gewünschte Abschreckung durch die Toten zu erzielen, wuchsen die Demonstrationen mit jeder Erschießung. Allein in den ersten Wochen starben hunderte Menschen — Assad war in die gleiche Falle getappt wie vor ihm die anderen arabischen Diktatoren, die versucht hatten, mit Waffen und durch die Tötung von Menschen den Willen der Aufstände zu brechen. Seit gut zehn Tagen erleben wir jedoch, wie dieses anfängliche hilflose und schwache Handeln der Regierung durch eine neue Strategie abgelöst wird.


Zwar gibt es immer noch Tote bei Demonstrationen, aber sie sind weder wirklich im staatlichem Interesse noch in diesem Umfang beabsichtigt, sondern eher Kollateralschäden und den überforderten Sicherheitskräften vor Ort anzulasten. Die neue Strategie besteht hingegen darin, massenweise Personen festzunehmen, sie mindestens eine Woche zu inhaftieren und in dieser Zeit zu foltern. Menschen werden dabei meistens nicht  aufgrund von konkreten  Verdachtsmomenten festgenommen, sondern vielmehr wegen ihrer  Zugehörigkeit zu von bestimmten Zielgruppen. In Daraa und Baniyas wurden in den letzten zwei Wochen  willkürlich tausende Männer zwischen 20 und 35 Jahren festgenommen, in den Vororten von Damaskus fast komplette Straßenzüge verhaftet. Das Muster, nach dem diese Festnahmen erfolgen, scheint immer das gleiche zu sein: die Orte werden von Sicherheitspolizisten, der vierten Division des Militärs und teilweise auch der Präsidentengarde umstellt, gleichzeitig werden der Strom und die Telefonnetze abgeschaltet und Scharfschützen auf den Dächern positioniert. Damit wird eine nicht angekündigte Ausgangssperre sehr wirkungsmächtig durchgesetzt und Haus für Haus durchkämmt, um Leute festzunehmen. Wenn die Sicherheitskräfte mit einem Ort fertig sind, werden sie zum nächsten kommandiert, um dort die Menschen nach dem gleichen Muster festzunehmen.

Für das Regime hat diese eingeschlagene Strategie gleich mehrere Vorteile: erstens gibt es dadurch deutlich weniger große Beerdigungen, deren Zeremonien oftmals in kraftvollen Demonstrationen endeten; zweitens ist die internationale Empörung, der Druck von außen und die öffentliche Aufmerksamkeit deutlich geringer, als bei der hohen Anzahl von Toten der vorausgehenden Wochen (die Medienberichterstattung ist teilweise sehr auf die Totenzahl ausgelegt) und drittens erreicht es die Regierung durch die Massenfestnahmen und die Folterungen, deutlich mehr Menschen einzuschüchtern als zuvor, da erkennbar mehr Leute davon betroffen sind oder sein können.

Dass nach unserer bisherigen Wahrnehmung die meisten Inhaftierten bereits nach einer Woche wieder entlassen werden, scheint nicht nur Kapazitätsengpässen geschuldet sondern auch Strategie zu sein. Die Leute sollen von dem Grauen, den körperlichen und seelischen Misshandlungen erzählen, um damit für weiter Abschreckung zu sorgen. Solange die Regierung es schafft, die internationalen Medien weiterhin aus Syrien auszusperren und Bilder von Gefangenen und Folterlagern nicht um die Welt gehen, scheint diese Strategie, deutliche Teile der Bevölkerung im ‚Durchlauferhitzer-Verfahren‘ festzunehmen und zu foltern, erfolgreich.

Bisher fehlt es an einer Gegenstrategie der Widerstandsbewegung, die dieser Schwächung entgegenwirken könnte — obwohl  es sich bei der perfiden Strategie des Regimes um keine neue Form handelt. Vor gut zwei Jahren ist nach dem selben Muster die grüne Revolution im Iran niedergeschlagen worden. Deshalb erstaunt es uns nicht, dass es in den letzten Wochen zu einem massiven strategischen Austausch zwischen Teheran und  Damaskus  gekommen ist – wie wir aus verschiedenen Quellen, u.a. aus diplomatischen Kreisen, gehört haben . Angeblich sollen auch verschiedene Sicherheitsberater aus dem Iran nach Syrien geschickt worden sein.

Mit der Implementierung dieser neuen Strategie, hat die Regierung gleichzeitig alle politischen Lösungsbestrebungen (etwa über Reformen) gestoppt. Seit Wochen schweigen Assad und der Rest der Regierung dazu. Bis jetzt gibt es allerdings auch keine erkennbaren Anstrengungen seitens der internationalen Staatengemeinschaft zu einer politischen Lösung beizutragen. Eine Tatsache, die viele AktivistInnen hier nicht verstehen.

Es bleibt zu hoffen, dass es gelingt die Perfidie der neuen Strategie sichtbar zu machen und die Bilder der Tausenden von Gefolterten und Gefangenen für die Menschen in Syrien und in der Welt sichtbar zu machen. Denn nur mit weiteren Druck von innen und außen kann dieser Brutalität Einhalt geboten werden. Vor allem aber bleibt zu hoffen, dass trotz oder gerade wegen dieser neuen Repressionswelle am Freitag wieder Zehntausende auf die Straße gehen und ihre Forderungen nach Freiheit und Demokratie unter Einsatz ihrer Freiheit und ihrer körperlichen Integrität aufrechterhalten.