Wir haben eine 4-seitige Zeitungsbeilage über Syrien veröffentlicht und richten den Blick auf diejenigen, die weiterhin im Land für Zukunftsprojekte eintreten. Die AktivistInnen streiten vor Ort weiter gegen die Unterdrückung der Diktatur und den Terror der Dschihadisten – für ein Leben in Freiheit und Würde.
Ein Kommentar von Haid Haid
Sollte sich die Familie über das ganze Haus verteilen, sodass jemand überlebt, wenn eine Fassbombe einschlägt? Oder sollten wir in einem Raum bleiben, um zusammen zu sterben? Sollten wir angesichts der Fassbomben im Keller übernachten? Oder doch lieber im obersten Stockwerk, um nicht zu ersticken, sollte die Fassbombe Giftgas enthalten?
Solche Fragen stellte ich mir, als ich das letzte Mal Atareb besuchte, meine Heimatstadt westlich von Aleppo. Denn nur wenige Tage vor meiner Ankunft war eine Fassbombe im Stadtzentrum explodiert und hatte mehr als 30 Menschen in den Tod gerissen – allesamt ZivilistInnen. Das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung wurde dadurch verstärkt, dass meine Mutter nur eine Straße vom Ort der Explosion entfernt lebt.
Fassbomben sind mit Sprengstoff gefüllte Tonnen, die zusätzlich Metallsplitter oder Chemikalien enthalten können. Aus Helikoptern abgeworfen fallen die improvisierten Geschosse taumelnd zu Boden. Ihre Sprengkraft reicht aus, ganze Gebäude zu verwüsten. Das syrische Militär wirft täglich Fassbomben auf oppositionelle Gebiete in ganz Syrien ab und nimmt dabei Märkte, Schulen, Krankenhäuser sowie Wohnviertel unter Beschuss.
Seit Beginn des syrischen Aufstands fährt das Assad-Regime eine Politik der kollektiven Bestrafung: In den oppositionellen Gebieten sollen die ZivilistInnen durch täglichen Terror getötet oder vertrieben werden. Diese Strategie der Vernichtung ist sowohl durch die Genfer Konvention als auch durch das humanitäre Völkerrecht geächtet und das Regime ist sich der Wirkung auf die Zivilbevölkerung bewusst: Wer täglich ums Überleben kämpft, kann sich nicht am Aufbau alternativer Strukturen beteiligen.
Der Einsatz von Fassbomben ist zugleich eine zentrale Ursache der massenhaften Vertreibung. Denn in den von der Opposition kontrollierten Gebieten ist niemand vor ihnen sicher. Bei einer Befragung von syrischen Flüchtlingen in Deutschland gaben 73% an, dass ihr Leben durch Fassbomben gefährdet war.
Obwohl eine UN-Resolution seit Februar 2014 den Einsatz von Fassbomben untersagt, geht ihr Abwurf ungebremst weiter. Die internationale Gemeinschaft hat keinerlei Anstrengungen unternommen, sie zu stoppen. Dabei handelt es sich aber offenbar nicht um Skrupel vor einem militärischem Eingreifen: Seit Herbst 2015 bombardieren Russland, Frankreich, Großbritannien und die USA, vier von fünf Vetomächten des UN-Sicherheitsrats in Syrien. Vielmehr fehlt die Einsicht, dass ein Stopp von Luftangriffen auf die Zivilbevölkerung essenziell ist für ein Ende des bewaffneten Konflikts.
Die Mehrheit der politischen Entscheidungsträger schweigt das bestehende Verbot von Fassbomben einfach tot, obwohl diese die meisten zivilen Todesopfer fordern. Dieses Schweigen beruht auf der Ratlosigkeit, wie Fassbomben militärisch gestoppt werden könnten – und auf Fehleinschätzungen der politischen Entscheidungsträger im Westen:
- Ohne öffentliche Debatte, wie Angriffe auf ZivilistInnen beendet werden können, fühlt sich das Regime in seinem Tun bestätigt.
- Zugleich unterstützt das Schweigen ISIS darin, sich als vermeintlicher Verteidiger des syrischen Volkes – und des Islam als Ganzem – gegen das Assad-Regime zu profilieren, was dem Extremismus Auftrieb verleiht.
- Unter massivem politischen Druck hat das Regime schon zuvor strategische Machtmittel aufgegeben, etwa 2013 den Großteil seiner Chemiewaffen. Ein Stopp von Fassbomben könnte also auch ohne militärische Mittel durchgesetzt werden.
Ein Ende der Fassbomben würde den friedlichen, zivilen Widerstand stärken, die Fluchtbewegungen bremsen und den Extremismus schwächen – und somit einen entscheidenden Schritt in Richtung einer politischen Lösung für Syrien darstellen.
Auch wenn sich die Politik mit der Frage nach der Umsetzbarkeit dieser Forderung aufhält, bleibt die moralische Verpflichtung, wenigstens die Zivilbevölkerung in Syrien zu schützen. Den entsprechenden Druck hierfür auszuüben, ist unser aller Aufgabe, auch die der deutschen Öffentlichkeit.
Mit einem eindringlichen Aufruf fordern syrische AktivistInnen: “Stoppt die Fassbomben, wir brauchen weniger Bomben, nicht mehr!” Wir unterstützen den Aufruf aus Syrien – und möchten auch Sie bitten: Zeigen Sie sich solidarisch, unterzeichnen Sie den Friedensaufruf aus Syrien!
Der Aktivist Haid Haid ist Sprecher der Kampagne „Planet Syrien“. Unter ihrem Dach setzen sich Organisationen der syrischen Zivilgesellschaft für ein Ende von Fassbomben und echte Friedensverhandlungen ein. Adopt a Revolution unterstützt den Aufruf von „Planet Syrien“.
Wir haben mehr Zeitungen drucken lassen als den Zeitungen beiliegen. Möchten Sie einige Exemplare bestellen, um sie auszulegen, FreundInnen und Bekannten weiterzugeben oder bei Veranstaltungen zu verteilen? Dann schicken Sie uns eine Email an: info[ätt]adoptrevolution.org. Gerne senden wir Ihnen Exemplare der Zeitung kostenfrei zu.