Ein Jahr nach dem „March of Hope“: Als die syrische Revolution nach Europa kam

Ein Jahr ist es nun her, dass wir erleben durften, wie Europa für kurze Zeit seine Grenzen öffnete. Seitdem hat sich vieles geändert. Die fremdenfeindliche AfD erzielt Rekordergebnisse und Europa schottet sich ab wie nie zuvor. Eine Bestandsaufnahme, ein Jahr nach dem „March of Hope“.

Endlich kamen die Busse, endlich durften die Menschen die ungarisch-österreichische Grenze passieren und dem Elend entfliehen, in dem sie wochenlang am Budapester Bahnhof Keleti ausgeharrt hatten. Die Verfolgung in ihren Herkunftsländern, die riskante Überfahrt über das Mittelmeer, die Strapazen der sogenannten Balkanroute mit ihren zahlreichen Grenzen – endlich wollten sie all das hinter sich lassen. Das und die humanitäre Katastrophe, die sich seit Tagen am Bahnhof Keleti zuspitzte.

In diesen Tagen vor genau einem Jahr machten sich Tausende zu Fuß auf den Weg von Budapest nach Wien, um die letzte Etappe ihrer Flucht nach Mitteleuropa zu nehmen. Selbstorganisiert zogen die Menschen los, durch die Stadt und schließlich auf die Autobahn – und erreichten schließlich das Unglaubliche: Mit ihrem „March of Hope“ rangen die aus Syrien, dem Irak und Afghanistan stammenden Vertriebenen den europäischen Regierungschefs Humanität ab. Noch auf der Autobahn erreichte die Menschen die Nachricht, Österreich und Deutschland würden ihre Grenzen öffnen, um zu einer Lösung der humanitären Katastrophe mitten in Europa beizutragen.

Berichte aus erster Hand
Es war beeindruckend zu sehen, wie AktivistInnen spontan diese Aktion auf die Beine stellten: Sie hatten die Route ausgekundschaftet, über Mundpropaganda den Zeitpunkt für den Aufbruch verbreitet und auf der Autobahn den Verkehr angehalten (Lesen Sie hier unseren Bericht vom September 2015). Viele derjenigen, die unterwegs den Marsch organisierten, waren bereits in Syrien daran beteiligt gewesen, die Proteste der Revolution gegen die Assad-Diktatur zu organisieren.

Dass diese Menschen inzwischen überall in Europa leben, dass sie aus erster Hand berichten können, was in Syrien passiert und welche Entwicklungen das Land seit Beginn der friedlichen Revolution im März 2011 genommen hat, bietet eine riesige Chance, den bewaffneten Konflikt und die Forderungen der Zivilbevölkerung zu verstehen – und letztlich Ansatzpunkte für eine Lösung des Konflikts zu entwickeln. Wie sehr es bereits seit jener Grenzöffnung zum Austausch kommt, erleben wir regelmäßig auf den vielen Veranstaltungen, zu denen unser Team eingeladen ist.

Von Aurich bis Dresden, von Hamburg bis Freiburg. Seit einem Jahr sind die Revolution und der Krieg in Syrien für immer mehr Menschen in Deutschland kein ganz so abstraktes Thema mehr, sondern verbunden mit persönlichen Schicksalen.

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Nationalistischer Rollback statt Fluchtursachenbekämpfung
Umso fataler ist es, dass sich bei der Bekämpfung von Fluchtursachen im letzten Jahr kaum etwas getan hat – auch wenn immer klar war, dass Merkels Credo „Wir schaffen das!“ nur funktionieren wird, wenn die internationale Politik die Krisen dieser Welt beendet, sodass sich nicht immer neue Flüchtlinge auf den Weg machen müssen.

Letztlich aber ist das Gegenteil der Fall: Seit wir vor einem Jahr mit den Flüchtlingen über die Autobahn gen Wien zogen, mit ihnen skeptisch blieben, als Budapester Stadtbusse sie abholen sollten und schließlich mit ihnen jubelten, als sie Österreich erreichten, rudert die europäische Politik nur noch zurück: Sie schneidet Fluchtrouten ab, statt Fluchtursachen zu bekämpfen – und ist nicht einmal damit erfolgreich: Trotz massiv eingeschränktem Asylrecht und zahlreicher weiterer so genannter „sicherer Herkunftsstaaten“, trotz einer bisher nicht gekannten Abschottung Europas und der Anbiederung an die mehr als zweifelhafte türkische Regierungspolitik, feiern ausländerfeindliche rechte Parteien einen Wahlsieg nach dem anderen.

Statt Initiativen für eine Lösung des militärischen Konflikts in Syrien oder gerechtere Handelsbedingungen für Bleibeperspektiven in den Maghrebstaaten gibt es den nationalistischen Rollback.

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Gegen die Renationalisierung Europas
Es bleibt beeindruckend, dass vor einem Jahr ausgerechnet die Selbstorganisation von Flüchtlingen Europa die Übernahme von humanitärer Verantwortung abgerungen hat. Was wir jetzt dringend benötigen ist die Selbstorganisation der hiesigen Zivilgesellschaft, damit die Grenzöffnung nicht eine kurzzeitige humanitäre Geste bleibt. Erste Ansätze sind bereits erkennbar, denn die Wahlerfolge der AfD und die nie erneute Verschärfung des schon lange ausgehöhlten Asylrechts durch die Große Koalition sind nur eine Seite der Medaille. Auf ihrer anderen Seite stehen die vielen Menschen, die an den Bahnhöfen Soforthilfe leisteten und bis heute versuchen eine weltoffene Willkommenskultur aufrechtzuerhalten.
Seit der Grenzöffnung vor einem Jahr hat sich die deutsche Gesellschaft entlang der Flüchtlingspolitik polarisiert. Bisher ist es nur dem rechten Pol um AfD und CSU gelungen, ihre Position für alle sichtbar zu artikulieren. Als Zivilgesellschaft, die für humanitäre Werte eintritt, müssen wir dafür sorgen, dass die andere Seite ebenfalls sichtbar wird – und sich letztlich durchsetzt gegen die Renationalisierung des gesamten europäischen Projekts.

Die PartnerInnen von Adopt a Revolution in Syrien treten Tag für Tag gegen die Fluchtursachen an, indem sie sich gegen Diktatur und Dschihadismus engagieren, Bildungsprojekte realisieren und dafür kämpfen, den Menschen eine Perspektive zu verschaffen. Unterstützen auch Sie ihre Arbeit!

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