Einkesselungen und wachsende Netzwerke

Am Wochenende wird der syrische Frühling bereits in seine neunte Woche gehen und doch ist es viel zu früh um eine Prognose abzugeben bezüglich des weiteren Verlaufs. Das Bild, das sich für uns und aufgrund unserer Arbeit hier ergibt, ist sehr unklar – trotz vieler Gespräche mit Menschen in Syrien, mit Journalist_innen und Diplomat_innen. Es […]

Am Wochenende wird der syrische Frühling bereits in seine neunte Woche gehen und doch ist es viel zu früh um eine Prognose abzugeben bezüglich des weiteren Verlaufs. Das Bild, das sich für uns und aufgrund unserer Arbeit hier ergibt, ist sehr unklar – trotz vieler Gespräche mit Menschen in Syrien, mit Journalist_innen und Diplomat_innen. Es erscheint mir wie  eine Pattsituation, in der die Demonstrierenden keine wirklichen Fortschritte erreichen, aber gleichzeitig steigende Todeszahlen beklagen müssen.

Auf der einen Seite greift das Regime immer stärker und härter durch: der Syrische Frühling ist –  abgesehen vom Bürgerkrieg in Libyen –  inzwischen mit 800 toten Demonstrant/innen leider der blutigste der jüngsten arabischen Aufstände. Über 9.000 Menschen wurden in den letzten Wochen verhaftet und in Gewahrsam genommen, es wurden mindestens zwei Gefangenen- und Folterlager in Fußballstadien eingerichtet. Unzählige Wohnungen wurden willkürlich durchsucht, Militär mit Panzern und Scharfschützen haben Vororte von Damaskus und Homs, Daraa im Süden und jüngst auch den Küstenort Baniyas besetzt und Verwüstungen angerichtet. Das Regime in Damaskus versucht alles, die Impulse und Aktionen der Protestbewegung systematisch zu brechen und zu verhindern.

Auf der anderen Seite gab es letzten Freitag so viele Demonstrationen in verschiedenen Orten wie nie zuvor. Und kaum ist eine Stadt eingekesselt und belagert, gibt es große Demonstrationen in den benachbarten Orten – die später auch oft eingekesselt werden, allerdings erst nach ein paar Tagen. Aus meiner Sicht hat es die Regierung mit ihren Gewaltmaßnahmen bisher nicht geschafft, den Protest effektiv zu zerschlagen und die Menschen zu entmutigen. Dennoch gibt es ein zentrales Problem der Protestbewegung:die Mittelschicht in Aleppo und Damaskus, die für die Stärkung der Bewegung von großer Bedeutung wäre, hat sich bisher kaum am Protest beteiligt. Es ist zu erwarten, dass die
volkswirtschaftlichen Kosten dieser Rebellion – u.a. durch die großflächige Lähmung des Landes und der Rückgang der ausländischen Investitionen – auch bald die Mittelschicht erreichen werden und diese spüren lassen, wie wichtig eine politische Reform ist. Es ist also wahrscheinlich eine Frage der Zeit, wann auch hier der Unmut und Widerstand gegen das Regime artikuliert wird.

Bei unserer Arbeit hier in Beirut sind wir hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Entsetzen. Das Netzwerk an Aktivist/innen und Informant/innen wird größer und stabiler, langsam entstehen mehr Strukturen. Es ist uns inzwischen gelungen, dass fast alle großen Medien auf unsere Informationen zurückgreifen, die bei uns aus dem syrischen Netzwerk zusammenfließen. Inzwischen sind drei Aktivist/innen fast rund um die Uhr damit beschäftigt. Unserer massiven Öffentlichkeitsarbeit ist es zu verdanken, dass Rami heute per Skype sogar einer Fraktionssitzung der Liberalen im Europäischen Parlament zugeschaltet wurde. Leider ist diese Arbeit, vor allem der Aktivist/innen in Syrien, aber alles andere als ungefährlich. Wir müssen trotz bester Kontakte zu den CNNs dieser Welt feststellen, wie hilflos wir sind, wenn etwa eine gute Freundin und Aktivistin in Syrien vom Geheimdienst festgenommen wird und verschwindet. So geschehen vorgestern Abend…