Yassin al-Haj Saleh
Bildquelle: Wikipedia.

“Helft Syrien heute. Morgen könnte es zu spät sein.”

Der syrische Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh fordert in einem Brief an die Welt, den Aufstand in Syrien jetzt zu unterstützen – denn morgen könnte es schon zu spät sein. Der Beitrag erschien bereits in französisch-, englisch-, spanisch- und arabisch-sprachigen Tageszeitungen und liegt mittlerweile auch auf detusch vor. Damaskus, 28. Juni 2013 Liebe Freunde, vor drei […]

Yassin al-Haj Saleh
Bildquelle: Wikipedia.

Der syrische Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh fordert in einem Brief an die Welt, den Aufstand in Syrien jetzt zu unterstützen – denn morgen könnte es schon zu spät sein. Der Beitrag erschien bereits in französisch-, englisch-, spanisch- und arabisch-sprachigen Tageszeitungen und liegt mittlerweile auch auf detusch vor.

Damaskus, 28. Juni 2013

Liebe Freunde,

vor drei Monaten verließ ich die Stadt Damaskus, wo das Leben zu repressiv geworden war, um in die “befreite” Zone der östlichen Ghota zu gehen. Das Gebiet, das vor dem Aufstand zwei Millionen Einwohner zählte, ist von nur noch etwa einer Millionen Menschen besiedelt. Es war eines der Stützpunkte, von dem aus die Rebellen in die Hauptstadt zogen. Aber nun ist die Region rundum von Truppen des Regimes belagert – dank der erneuten Unterstützung aus Russland und dem Iran sowie der Ankunft der vom Iran finanzierten irakischen und libanesischen Milizen. Während der letzten drei Monate war ich persönlich Zeuge des erschütternden Mangels an Waffen, Munition und sogar an Lebensmitteln für die Kämpfer. Viele von ihnen bekamen höchstens zwei Mahlzeiten am Tag und ihre Situation wäre erheblich schlimmer ausgefallen, wären sie nicht von den Bewohnern vor Ort versorgt worden, die ihre eigenen Städte und Familien schützten und die ihrerseits von ihrer Verwandtschaft durchgebracht wurden.

Die Städte und Kleinstädte, die ich gesehen oder in denen ich während dieser Monate gelebt habe, sind täglichen, willkürlichen Luftangriffen sowie Granaten- und Raketenbeschuss ausgesetzt. Opfer, zumeist Zivilisten, gibt es jeden Tag. In einem Zentrum für den zivilen Bevölkerungsschutz, in dem ich einen Monat lang lebte, sah ich wie all die Leichen hereingebracht wurden. Manche waren nur noch bis zur Unkenntlichkeit gewordene Überreste, manche gehörten Kindern. Unter den Opfern war auch ein sechs Monate alter Fötus, den eine vor Schrecken erstarrte Mutter verloren hatte. Nicht ein einziger Tag jenes Monats verstrich ohne Opfer, normalerweise waren es zwei oder drei, an einem Tag aber auch neun, 28 an einem anderen und elf an einem dritten.

Neben Zivilisten werden täglich mehrere Kämpfer von den Waffen einer überlegenen Macht, mit besserer Unterstützung, getötet.

In der ganzen Gegend gibt es seit acht Monaten keinen Strom mehr. Daher sind die Menschen von vielen, sehr anfälligen Generatoren abhängig, die viel Benzin verbrauchen, dass immer knapper wird. So sind die Menschen gezwungen, ihre Kühlschränke trotz der zunehmenden Hitze nicht mehr zu benutzen. Alle Fest- und Mobiltelefonnetze sind seit letzter Woche abgeschaltet, das Getreide wird auch knapp. Ich esse nur noch zweimal am Tag etwas. Das ist soweit in Ordnung, die neue Diät hat mir geholfen, zehn Kilo zu abzunehmen.

Das Schlimmste ist jedoch, dass immer mehr Menschen schnell und würdelos begraben werden müssen. Die Menschen fürchten, sich am Friedhof aufzuhalten und so zur Zielscheibe von Raketen zu werden. Ich selbst und einige Freunde – wir leben noch. In Damaskus waren wir ständig der Gefahr einer Festnahme und unerträglicher Folter ausgesetzt. Hier sind wir davor geschützt, jedoch nicht vor einer Rakete, die jeden Augenblick auf unseren Köpfen landen könnte.

Eine der bemerkenswertesten Dinge, die ich während meiner ersten Tage hier bemerkte, war, dass die Freitagsgebete in der einen Moschee für neun Uhr morgens angesetzt waren, in einer anderen eine halbe Stunde später und in wieder anderen mit jeweils einer halben Stunde Unterschied. Damit will man Menschenansammlungen vermeiden, um dem Regime die Möglichkeit zu nehmen, viele Menschen zu töten. Das Regime hatte dies zuvor schon versucht, und in einer Stadt stehen jetzt fünf zerstörte Moscheen.

Weitaus schmerzlicher ist, dass mehr als zwei Drittel der Kinder keine Schule besuchen, entweder weil ihre Eltern sich zu sehr fürchten, sie aus den Augen zu lassen oder weil nur wenige Schulen zur Verfügung stehen. Jene, die noch geöffnet sind, unterrichten alle in unterirdischen Räumen, um einem Beschuss zu entgehen, und dasselbe gilt auch für einige der Krankenhäuser.

Die Menschen kämpfen hier mit einer uneingeschränkten Missachtung, denn ihnen ist bewusst, dass auf sie ein großes Massaker zukommt, sollte es dem Regime gelingen, das Gebiet wieder in seine Gewalt zu bringen. Wer nicht sofort getötet wird, auf den warten Festnahme und grausame Folter. Die Menschen haben nur die Wahl im Widerstand gegen eine faschistisches Regimes zu sterben oder von dem gleichen Regime auf die schlimmstmögliche Art und Weise getötet zu werden. Die Menschen erzittern vor Furcht und auch ich erschaudere bei dem Gedanken, dass dieses Regime uns wieder regieren könnte.

Die jetzige Situation ist eine direkte Folge der fehlenden Bereitschaft der großen Mächte, die syrischen Revolutionäre zu unterstützen. Währenddessen schicken die Verbündeten des Regimes nicht nur Geld, Männern und Waffen, sondern haben ihre Unterstützung qualitativ und quantitativ in jüngster Zeit sogar noch verstärkt. Schließlich, nachdem die Welt erkannt hatte, dass das Regime chemische Waffen einsetzt (etwas, das ich selbst dokumentierte und mit Freunden mit dem nötigen persönlichen Expertenwissen nachgeprüft habe) und nachdem das Regime sich die weltweite Zustimmung für seinen Einsatz von Luftwaffen und Langstreckenraketen auf Städte und Wohngebiete gesichert hatte, nach alledem haben sich die westlichen Mächte dazu entschieden, die Revolutionäre mit Waffen zu unterstützen, um die “Balance” wiederherzustellen, dessen Störung sie zugunsten des Regimes selbst begünstigt hatten.

Diese Politik ist nicht nur kurzsichtig und wird den Konflikt in die Länge ziehen – sie ist zutiefst unmenschlich. Es handelt sich in Syrien nicht um zwei ebenbürtige Übel – wie der größte Teil westlicher Medien in Widerspruch zu den Berichten der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen behauptet. Es handelt sich um ein faschistisches Regime auf der einen Seite, das bereits mehr als 100.000 seiner eigenen Leute getötet hat, und einen vielfältigen Strauss an Revolutionären, von denen einige radikalisiert wurden, weil sie der Dauer des Konflikts nicht standhalten konnten und der Widerstand der syrischen Gesellschaft gegenüber dem Regime schwächelte. Je länger die Syrer im Stich gelassen werden und zu Tode kommen, desto wahrscheinlicher ist es, dass radikale Gruppen erstarken und gemäßigte, vernünftige Stimmen an Kraft verlieren. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass genau dies gerade passiert. Jedes Mal wenn weitere Opfer zu beklagen sind, besonders Kinder, schauen mich die Menschen im Zentrum für zivilen Bevölkerungsschutz mit prüfenden Blicken an. Sie fragen sich, welchen Wert die Sprache der “Vernunft” noch hat, die ich benutze.

Es gibt heute nur eines, was aus syrischer und aus menschlicher Sicht richtig ist: den Syrern zu helfen, sich der Assad-Dynastie zu entledigen, die Syrien als Lehensgut und die Syrer wie Leibeigene behandelt. Alles wird in Syrien in der Zeit nach Assad schwierig werden. Assad abzusetzen wird jedoch eine neue, moderatere Dynamik in der syrischen Gesellschaft in Gang setzen und wird den Syrern erlauben, sich den Radikalen unter ihnen entgegenzusetzen. Weitaus schlimmer wäre, zuzulassen, dass dieser Konflikt weiter schwelt und die Schadensbilanz in materiellen Gütern und bei Menschenleben weiter anwächst; schlimmer noch wäre es, mitanzusehen, wie Syrer durch russische Waffen in den Händen lokaler, libanesischer und iranischer Mörder ums Leben kommen; schlimmer wäre es auch, eine Übereinkommen zu treffen, das Kriminelle nicht bestraft und die syrischen Probleme nicht löst.

Die Politiker des Westens und der USA betonen oft, dass es keine militärische Lösung für den syrischen Konflikt gebe. Aber wo bleibt die politische Lösung? Wann in den letzten 28 Monaten und nach über 100.000 Todsopfern hat Bashar Assad angeboten, ernsthafte Verhandlungen mit der Opposition aufzunehmen, um die Macht zu teilen? Die Wahrheit ist, dass es keine politische Lösung geben wird, ohne dass Assad jetzt und mit ihm alle Meister des Mordens gezwungen werden, abzutreten.

Unsere lieben Freunde, ich richte mich heute an euch, weil die syrische Tragödie eines der weltweit größten und gefährlichsten Probleme der heutigen Zeit geworden ist. Sie hat mehr als ein Drittel der Bevölkerung in- und außerhalb des Landes vertrieben; Hunderttausende Menschen wurden verletzt oder schwerwiegend versehrt und mehr als eine Viertelmillion Inhaftierter erlebt entsetzliche Folter.

Wir flehen euch als Meinungsführer in euren Ländern an, eure Regierungen unter Druck zu setzen, eine klare Position gegen Assad und zugunsten des Endes seines Regimes einzunehmen. Das ist das einzig Menschliche und Fortschrittliche, das getan werden kann. Es gibt nichts, das faschistischer und reaktionärer in der heutigen Welt ist, als ein Regime, das sein eigenes Volk tötet, Mörder und Söldner aus dem Ausland importiert und einen Konfessionskrieg entfesselt, der vielleicht erst beendet sein wird, wenn er die Leben von Hunderttausenden genommen hat.

Wir erwarten eure Unterstützung heute. Morgen könnte es zu spät sein.

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Übersetzung: Christine F. G. Kollmar, Heinrich-Böll-Stiftung.