Wir haben eine 4-seitige Zeitungsbeilage über Syrien veröffentlicht und richten den Blick auf diejenigen, die weiterhin im Land für Zukunftsprojekte eintreten. Die AktivistInnen streiten vor Ort weiter gegen die Unterdrückung der Diktatur und den Terror der Dschihadisten – für ein Leben in Freiheit und Würde. Lesen Sie hier den Aufmachertext der Zeitung!
Was denken diejenigen über Flucht und Vertreibung, die nicht gehen können oder wollen? Eine Antwort aus Douma, einer belagerten Vorstadt von Damaskus. Von Sanaa und Rajaa al-Salam.
Auch wir sehen die Bilder, wie Syrer Innen in Europa ankommen, wie sie an Grenzen warten, wie sie begrüßt oder abgewiesen werden. Diese Bilder bewegen auch uns, die wir hier geblieben sind. Wir versuchen weiterhin für die Ziele des Aufstands von vor fünf Jahren einzustehen. Doch wenn ich sehe, wie viele Menschen unserem Land den Rücken kehren, beschleicht mich das Gefühl, dass dieser Krieg noch lange dauern wird. Bereits so vielen erscheint Auswanderung als die einzige Lösung.
Millionen von Menschen suchen Schutz in Syriens Nachbarstaaten und in Europa. Keine Frage, die Lebensbedingungen haben sich hier verschlechtert, und ich kann diejenigen verstehen, die anderswo eine bessere Zukunft suchen. Ich fühle mit ihnen, bange um sie auf der gefährlichen Reise. Mich befällt Trauer, dass sie vertrieben wurden. Und trotzdem bleibt das Gefühl, dass diese massenhafte Auswanderung unsere Familie – die Gemeinschaft aller SyrerInnen – zersplittert.
Syrien wird leerer und ärmer
Doch was bewegt die Menschen zur Flucht? Hier, in den Gebieten unter Kontrolle der Opposition, heißen die Fluchtgründe Bomben, Entführung, Belagerung und Hunger. Dort, wo das Regime das Sagen hat, ist Kritik unmöglich, aber der Krieg genauso allgegenwärtig. Manche gehen auch aus weniger offensichtlichen Gründen, etwa, weil sie im Ausland studieren oder andere Kulturen entdecken möchten. Durch ihre Abwesenheit wird Syrien täglich leerer und ärmer.
Besonders die Jugend verlässt uns. Wie wir hören, freuen sich die europäischen Staaten vor allem über junge Menschen oder Familien mit Kindern, die langfristig ihre Wirtschaft stärken. Dass Syrien damit die eigene Zukunft verliert, sieht niemand; selbst wenn die meisten Auswanderer so bald wie möglich zurückkehren möchten. Dabei leben die Flüchtlinge oft selbst unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, in den Nachbarstaaten noch mehr als in Europa. Sie können denjenigen, die in Syrien geblieben sind, keine Unterstützung bieten.
Ich hoffe trotzdem, dass ihre Auswanderung einen Sinn ergibt. Denn in Europa können sie Bilder zeigen und erzählen, was hier geschieht: Sie können bezeugen, dass es die Tyrannei und Willkür der Diktatur sind und die Folgen des Krieges, die unser Leiden verursachen. Vielleicht können sie erreichen, dass sich das Denken der EuropäerInnen ändert, dass diese endlich Solidarität zeigen und mit menschlichem Blick auf Syrien, auf uns, schauen?
Ich selbst hoffe weiterhin, Syrien nie verlassen zu müssen. Denn ich glaube, auszuwandern wäre ein großer Fehler, ein Vergehen gegen mich selbst. Meine Prinzipien, meine Gewohnheiten, meine Traditionen: Ich möchte sie nicht aufgeben und durch die Gebräuche eines Gastlandes ersetzen. Bei allem Respekt gegenüber jenen Ländern, die Flüchtlinge willkommen heißen: Ich möchte Syrerin bleiben!
Natürlich danke ich diesen Ländern, so wie ich allen danke, die uns SyrerInnen mit Menschlichkeit behandeln. Wir hier können nur das Wenige teilen, das uns noch bleibt, etwa denjenigen, deren Häuser zerstört wurden, unsere Türen öffnen.
Allerdings behaupten viele europäische Staaten, dass sie diejenigen beschützen möchten, die humanitäres Asyl brauchen. Doch die meisten, die in Europa ankommen, sind jung und gesund – denn der Weg ist gefährlich und teuer. Was hat das mit Humanität zu tun? Warum wird denjenigen keine Chance gegeben, nach Europa zu gehen, die unerlässlich Schutz bräuchten?
Wer braucht Humanität?
So wie Omar, ein Kind in der hiesigen Nachbarschaft. Er leidet an einer Lähmung, die relativ leicht zu behandeln wäre. In Deutschland könnte Omar sein Leben sicherlich fortsetzen wie alle anderen Kinder auch. Aber hier, in der Belagerung durch das Assad-Regime, haben wir keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Daher frage ich mich: Warum müssen die Menschen erst Europa erreichen, wenn sie Schutz benötigen? Warum erfahren nicht alle diejenigen Humanität, die sie brauchen?
Die europäischen Staaten könnten Druck auf das Regime von Bashar alAssad ausüben, damit sein Krieg gegen die syrische Bevölkerung endlich endet. Auf Druck von außen, wenn er wirklich ernst gemeint ist, hat die Diktatur immer reagiert.
Momentan schauen alle auf die Flüchtlinge. Doch niemand fragt, warum sie eigentlich kommen. Niemand tut etwas, dass die Menschen bleiben können. Ich wünsche mir, dass die EuropäerInnen endlich verstehen: Das hier ist keine Naturkatastrophe. Wir bitten um Hilfe, diesen Krieg zu beenden. Zwar wird viel geredet über Syrien, doch es passiert einfach nichts.
Wir haben mehr Zeitungen drucken lassen als den Zeitungen beiliegen. Möchten Sie einige Exemplare bestellen, um sie auszulegen, FreundInnen und Bekannten weiterzugeben oder bei Veranstaltungen zu verteilen? Dann schicken Sie uns eine Email an info[ätt]adoptrevolution.org. Gerne senden wir Ihnen Exemplare der Zeitung kostenfrei zu.
Sanaa al-Salam, 27, und ihre Mutter Rajaa al-Salam, 55, leben in Douma, einem belagerten Vorort von Damaskus. Sanaa hat mit ihrer Frauengruppe eine Bibliothek aufgebaut. Rajaa leistet vor Ort humanitäre Arbeit. Bis zur Abriegelung durch die Assad-Armee wurden in Douma zahlreiche Flüchtlinge aufgenommen, mittlerweile wird die Stadt nahezu täglich bombardiert. Übersetzung: Sophie Bischoff.