Manbij: Die menschlichen Kosten des Antiterrorkrieges

Mindestens 73 tote ZivilistInnen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder. Das soll die Bilanz eines Luftangriffs der US-geführten Internationalen Koalition nördlich der syrischen Stadt Manbij sein.

Seit Ende Mai währt die Offensive der kurdisch-arabischen Syrian Democratic Forces (SDF) auf die Stadt Manbij. Dabei werden die KämpferInnen von Luftangriffen der Internationalen Koalition unterstützt. Die Stadt ist unter Kontrolle der Terrorgruppe „Islamischer Staat“, ihr Verlust wäre für die Dschihadisten ein erheblicher Schlag, da eine bedeutende Nachschubroute von der türkischen Grenze nach Raqqa, der „Haupstadt des Kalifats“, durch diesen Ort führt. Seit über anderthalb Monaten ist die Stadt unter Belagerung, immer tiefer soll die SDF bereits ins Stadtgebiet vorgedrungen sein.

Am Dienstagmorgen nahm die amerikanische Luftwaffe anscheinend die nahegelegene kleine Ortschaft al-Tokhar ins Visier – doch statt den Dschihadisten traf sie ZivilistInnen. „Das Dorf ist sehr klein“, berichtet Ahmad, ein Aktivist vom Syrian Institute for Justice, „also hat fast jeder einen Angehörigen bei diesem Angriff verloren.“ Ahmed stammt selbst aus Manbij, hat noch immer sehr gute Kontakte vor Ort. Mindestens 73 Tote konnten seinen Informationen nach bisher namentlich identifiziert werden, darunter dutzende Frauen und Kinder. „Die Menschen dort sind arm, die Toten mussten in Massengräbern beigesetzt werden“, erzählt er. Noch immer gäbe es Leichen, die noch nicht aus den Trümmern geborgen werden konnten. „Die Leute sind traurig und wütend“, sagt Ahmad. Ein Einwohner habe ihm erzählt, dass die Kinder mittlerweile in Tränen ausbrechen, sobald sich ein Flugzeug nähert.

Seit Beginn der Offensive auf Manbij sind nach Informationen der AktivistInnen um Ahmed etwa 183 Menschen durch Luftangriffe der Koalition ums Leben gekommen. Das deckt sich mit Schätzungen der Watchgroup Airwars, die von etwa 190 zivilen Opfern seit dem 31. Mai ausgeht.

Airwars schätzt, das in Syrien und im Irak mindestens 1.422 ZivilistInnen durch Luftangriffe der internationalen Anti-IS-Koalition getötet wurden – 682 bis 942 Menschen starben in Syrien.

Auch die Rückkehr der SyrerInnen in ihre befreiten Heimatorte rund um Manbij verzögert sich teilweise. Wie schon in Kobani, Falludscha und zahlreichen anderen Orten hat der IS auch viele dieser Dörfer mit zahlreiche Sprengfallen präpariert, deren Entschärfung Zeit kostet. Ahmeds Tante wurde durch eine solche Sprengfalle in den Tod gerissen. Die Lebensmittel- und Stromversorgung gestaltet sich vielerorts schwierig.

Derweil ist in Syrien eine Diskussion über die Luftangriffe der Internationalen Koalition entbrannt. Teile der Opposition fordern ein Ende der Luftangriffe, darunter auch Ahmed, der außerdem betont, wie wichtig es sei, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Andere – wie die SDF – widersprechen. Das würde nur den IS stärken und die eigenen Opferzahlen hochtreiben. Andere argumentieren, dass die Internationale Koalition den Dschihadisten vielmehr bei der Rekrutierung helfen würde, indem sie die Menschen radikalisiert und in die Arme der Terroristen treibe. Neben zahlreichen schockierten, kritischen und besonnenen Stimmen mehren sich auch verschwörungstheoretische Kommentare. Im Netz kursieren außerdem diverse grauenvolle Bilder aus dem Yemen, dem Irak oder anderen Teilen Syriens, die angeblich die Folgen des Luftangriffs auf al-Tokhar zeigen.

Die amerikanischen Streitkräfte haben mittlerweile angekündigt den Fall zu untersuchen. Außerdem scheinen kurdische Kämpfer dem IS am Donnerstag ein Ultimatum von 48 Stunden gesetzt zu haben, um sich aus der Stadt zurückzuziehen. Doch nicht nur an die Dschihadisten wendet sich die Gruppe: Die zehntausenden verbliebenen ZivilistInnen sollten versuchen, die Stadt zu verlassen, oder zumindest Abstand zur Front wahren. Wie das so einfach gehen soll, ist unklar. Zumal der IS ZivilistInnen als menschliche Schutzschilder missbraucht. Eine weitere Tragödie bahnt sich an.