Seit gut einer Woche bin ich wieder in Beirut bei Rami Nakle (alias Malath Aumran) und unterstütze ihn bei seinen Aktivitäten gegen das Assad-Regime in Syrien. Leider hat sich die Lage im Libanon seit meinem letzten Aufenthalt dramatisch verschlechtert. Die syrischen Geheimdienste und ihre lokalen Verbündeten im Libanon betreiben eine intensive Suche nach Aktivst_innen. Aus sicheren westlichen Geheimdienstquellen wissen wir, dass Rami einer der vorrangig Gesuchten ist. Leider kann er auf Grund seines Flüchtlingsstatus das Land nicht verlassen und so verbringen wir derzeit die meiste Zeit damit, seine Sicherheitslage zu meistern und zu planen. Allein in der letzten Woche haben wir drei Mal das Versteck gewechselt. Das alles ist sehr kräftezehrend und nervenaufreibend, vor allem aber hält es uns leider auch weitgehend von der politischen Arbeit ab. Die Lage ist also wirklich sehr unschön. Aber wir konnten dennoch einige sehr konstruktive Gespräche mit diversen Organisationen und Botschaften führen, die uns hoffen lassen, dass es in den nächsten ein bis zwei Wochen eine Lösung geben wird. Abhängig von der Sicherheitslage werde ich voraussichtlich noch bis Ende August in Beirut bleiben und euch über den Fortgang der Ereignisse berichten. Hier aber erstmal eine kleine Analyse zur momentanen Situation in Syrien.
Die Lage in Syrien ist schlecht. In den letzten Wochen und Monaten hat das Militär mit Panzern und schwerem Geschütz eine syrische Stadt nach der anderen belagert und beschossen. Neben dem Militär verbreiten die Schabih (Milizen die vom Cousin des Präsidenten angeführt werden) und Geheimdienste durch ihre Brutalität Angst und Schrecken. Im Gegensatz zu den Monaten davor vergeht nun kein Tag mehr, an dem nicht Dutzende friedlicher DemonstrantInnen erschossen werden. Aktivist/innen werden gezielt gejagt und verschwinden einfach. Über 25.000 Menschen wurden seit Beginn des Aufstands verhaftet. Temporäre Gefangenen- und Folterlager werden errichtet, wie zuletzt in Lattakia, wo in einem Sportstadion Hunderte über Tage inhaftiert und gequält wurden. Die Sicherheitskräfte werden dabei immer brutaler: gezielte Schüsse ins Gesicht, das Zerstümmeln von Gliedmaßen und das Erschießen
von Ärzten, die wegen der Verhandlung Verwundeter erschossen werden, geben einen Eindruck. Auch die Berichte von Vergewaltigungen durch die Sicherheitskräfte häufen sich dramatisch. Leider wird darüber kaum berichtet, da es hier ein großes
Tabuthema ist. In den fünf Monaten, die der Aufstand nun schon andauert, war die Lage der Menschen in Syrien nie so schlecht wie heute, nie war die Gewalt der Sicherheitskräfte so brutal und massiv.
Gleichzeitig sind die Aussichten auf einen Erfolg der Proteste nie besser gewesen als heute. Das seit Monaten anhaltende Patt zwischen dem Regime und den Protestierenden verschiebt sich immer mehr zugunsten der Aufständischen. Seit Beginn des Ramadans finden nun nicht nur freitags sondern täglich Demonstrationen statt. Aus Demonstrationen mit tausenden Teilnehmer_innen im April sind im Juli
Hunderttausende geworden.Trotz aller Brutalität gehen die Menschen mit großer Hartnäckigkeit und Ausdauer auf die Straße, so dass es für die Sicherheitskräfte eigentlich nicht möglich ist, die Lage dauerhaft unter Kontrolle zu bringen. Auch wenn die großen Proteste in Deir Zur und in Hama erst einmal niedergeschlagen wurden und deshalb die Gesamtzahl der Protestierenden sich verringert hat, so ist die Wut und die Empörung bei den Syrern um ein Mehrfaches gestiegen. Und zwar nicht nur in diesen Städten, sondern jetzt auch in Damaskus, wo bislang wegen der intensiven Sicherheitsvorkehrungen im Zentrum keine Großdemonstrationen stattgefunden haben. Dort sind – wie uns zwei Freundinnen aus Damaskus berichteten – inzwischen sehr viele Leute unglaublich wütend und es sei nur noch eine Frage kurzer Zeit, dass diese Wut zu großen Protesten führt.
Und nicht nur die Proteste nehmen zu, es gibt vermehrt auch Anzeichen für den langsamen Zerfall des Regimes. Ehemalige Minister und Parlamentsangehörige haben öffentlich die Regierung für das brutale Vorgehen kritisiert. Fünf Gouverneure der Provinzen Hama, Homs, Daraa musste Assad bereits ersetzen; der Verteidigungsminister wurde letzte Woche zurückgetreten; diversen Geschäftsleuten
wurde die Ausreise aus Syrien verweigert aus Angst sie könnten nicht zurück kommen. Wir hören aus Diplomatenkreisen, dass immer mehr, vor allem sehr wohlhabende Syrer ihre Fühler zu westlichen Botschaften ausstrecken, um sich dort einen Kontakt zu sichern; und an den Checkpoints wird inzwischen fast nur noch nach Soldaten gesucht, da inzwischen immer mehr Soldaten desertieren. Natürlich
sind dies alles nur kleine Anzeichen, die nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass es noch zu keinen massiven Verwerfungen im Militär bzw. im restlichen System Assad gekommen ist, aber all diese kleinen Zeichen mehren sich und fast täglich kommen neue hinzu.
Auch die internationale Isolation hat durch die Rücktrittsforderungen der USA und der EU an Assad zugenommen. Während die USA kaum über Sanktionspotential verfügen, hätte die EU die immerhin die Möglichkeit dem syrischen Regime ökonomisch zu schaden durch einen Stopp der Öllieferungen. Anders als bei Ölsanktionen in anderen Ländern, besteht bei Syrien eine hohe Chance, dass Sanktionen nicht kompensiert werden könnten, da das syrische Öl extrem schwer ist und in nur sehr wenigen Raffinerien weltweit aufgearbeitet werden kann. Ob sich die EU wirklich dazu durchringt, wird sich wohl erst Anfang September entscheiden. Am wichtigsten und einflussreichsten bezüglich des Fortbestandes des Assad-Regimes bleibt jedoch die Türkei. Sie verfügt über großes wirtschaftliches Sanktionspotential, das sich direkt auf die Mittelschichten in Alleppo und Damaskus auswirken würde. Es ist kaum vorstellbar, dass die Türkei nach Ablauf ihres 15-tägigen Ultimatums an Syrien Mitte dieser Woche nicht zu härten Maßnahmen greifen wird.
Und schließlich gibt es gute Anzeichen dafür, dass sich die syrische Opposition zusammenschließt. In den letzten zehn Tagen fanden viele informelle Treffen verschiedenster Oppositionsgruppen in Istanbul statt und Pläne für einen Übergangsrat scheinen etwas konkretere Gestalt anzunehmen.
Damit sind jedoch noch keine Antworten auf die große Frage gefunden, wie dieses verbrecherische-brutale Regime abgelöst werden kann, wenn sich die Armee nicht auf die Seite des Volkes stellt. Auch ist scheint der interne Kreis des Assad Systems noch keine Risse zu zeigen. Dennoch – zu keinem anderen Zeitpunkt dieser Revolution war die politische Situation so viel versprechend für den Aufstand wie jetzt. Und wie bereits gesagt: alle wissen, dass Assads Tage längst gezählt sind, vielleicht sind es weniger als wir denken.
Natürlich wird auch der Fall von Gaddafi der syrischen Protestbewegung weiteren Aufschwung bringen. In Bengasi wurde gestern Nacht der Sprechchor angestimmt: „Syrer habt keine Angst, ihr werdet die nächsten sein“. Hoffen wir das sie recht haben.