Was passiert in Ost-Ghouta?

Die wichtigsten Fakten zur Belagerung Ost-Ghoutas.

In Ost-Ghouta sind noch immer Hunderttausende Menschen eingeschlossen und fast pausenlosen Bombardements ausgesetzt, fast täglich gibt es Dutzende Tote und oft Hunderte Verletzte. Der seit Jahren belagerten Zivilbevölkerung mangelt es drastisch an Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung. Im folgenden stellen wir die wichtigsten Fakten zur humanitären und politischen Situation in Ost-Ghouta zusammen sowie Zeugenaussagen unserer zivilgesellschaftlichen Projektpartner in der Region.

Aktualisiert am 23. März 2018

Seit Mitte Februar wurden pro Tag zweitweise mehr als hundert Menschen durch Bombardements getötet. Dabei gehört Ost-Ghouta offiziell zu den vier im Mai 2017 von Russland, Iran und Türkei in Astana vereinbarten Deeskalationszonen. Auch russische Kampfverbände sind an den Angriffen beteiligt, obwohl Russland verantwortlich für die „De-Eskalation“ in Ost-Ghouta ist. Die Angriffe richten sich gezielt gegen zivile Infrastruktur. Es handelt sich offensichtlich um Kriegsverbrechen.

Getötete ZivilistInnen pro Tag vom 18.2.2018 bis 7.3.2018 in Ost.Ghouta

Dokumentationen des Violations Documentation Center, der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte und anderer Organisationen zeigen, dass die Angriffe größtenteils der Zivilbevölkerung gelten.

Tote in Ost-Ghouta im Zeitraum 18.2.2018 bis 28.2.2018

»Ich habe riesige Angst um meine kleine Tochter. Wir sind 24 Stunden am Tag im Keller, wir können den Tag von der Nacht nicht mehr unterscheiden.«

Nader, Initiative Lamset Amal aus Hazeh, am 4.3.2018

Gezielte Angriffe auf Märkte, Schulen und medizinische Einrichtungen, die nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen zu erachten sind, gehören seit langer Zeit zur militärischen Strategie des Assad-Regimes und seiner russischen Verbündeten. Am 19. März wurde eine seit Jahren von Adopt a Revolution unterstützte Schule in Erbin mit einer bunkerbrechenden Rakete angegriffen, 23 Menschen starben.

Angriffe auf zivile Einrichtungen in Ost-Ghouta

Die aktuelle Eskalation in Ost-Ghouta hat sich lange abgezeichnet. Schon Anfang 2017 schrieben Beobachter, dort drohe sich zu wiederholen, was im Dezember 2016 in Aleppo geschah: Eine militärische Kampagne des Assad-Regimes und Russlands, die nicht nur keine Rücksicht auf das Leben und die Unversehrtheit von ZivilistInnen nimmt, sondern direkt auf die Zivilbevölkerung zielt.

»Die größte Angst ist jetzt, dass das Regime und Russland uns mit Giftgas oder mit bunkerbrechenden Raketen angreifen, um die ZivilistInnen in den Luftschutzkellern zu treffen.«

Huda, Leiterin des Frauenzentrums Nisaa al Ghouta, Douma, am 4.3.2018

Die Weltgemeinschaft war im Fall Aleppos nicht gewillt die Zivilbevölkerung vor schweren Kriegsverletzungen zu schützen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Ost-Ghouta führt heute deutlich vor Augen, wohin dieses Versagen führt: Wenn schwere Kriegsverbrechen wie das Aushungern und gezielte Bombardieren von ZivilistInnen von der Weltgemeinschaft hingenommen werden, wiederholen sie sich.

Schäden durch Bombardements, Ost-Ghouta

Hintergrund: Der Aufstand gegen das Assad-Regime

Die ländliche Bevölkerung Ost-Ghoutas sieht sich seit Jahrzehnten vom Regime im Nahen Damaskus benachteiligt. Im Zuge Bashar Al-Assads Machtübernahme im Jahr 2000 und dessen Wirtschaftspolitik verschlechterte sich die ökonomische Situation in der Region. Ost-Ghouta entwickelte sich daher 2011 schnell zu einer Hochburg der Proteste gegen die Diktatur.

Nachdem das Regime die anfangs friedlichen Demonstrationen mit Gewalt niederzuschlagen versuchte, bewaffneten sich Teile der Opposition, 2012 wirden die Sicherheitskräfte des Regimes aus OStGhouta vertrieben. Die anhaltende Gegenwehr vor den Toren der Hauptstadt betrachtet das Regime als Provokation.

Giftgasangriffe auf Ost-Ghouta

2013 wurde Ost-Ghouta zum Ziel eines Angriffes mit Saringas, dem über 1000 Menschen zum Opfer fielen. Mit höchster Wahrscheinlichkeit trägt das Assad-Regime die Verantwortung für den Angriff mit der international geächteten Chemiewaffe. Auch in den letzten Monaten wurde in Ost-Ghouta wiederholt Giftgas eingesetzt – Chlorgas, das schwerer ist als Luft, folglich in die Keller eindringt und damit geeignet ist, um Menschen aus den Luftschutzkellern zu treiben.

Belagerung – Systematisches Aushungern der Zivilbevölkerung

Ost-Ghouta wird schon seit 2013 von der UN als belagert klassifiziert. Das Assad-Regime hat die Region vom regulären Warenverkehr abgeriegelt und verhindert fast sämtliche UN-Hilfslieferungen. Aufgrund der Schließung von Schmuggelrouten hat sich die Situation in den vergangenen Monaten erheblich verschärft.

Preise im belagerten Ost-Ghouta

Seit Herbst 2017 hungern viele Menschen, zwölf Prozent der Kinder gelten nach UN-Angaben als mangelernährt. Mangelernährte Mütter können ihre Säuglinge oft nicht ausreichend stillen, Babynahrung ist so gut wie nicht erhältlich.

»Heute ist der erste Tag, an dem es nichts mehr zu essen gibt. Ich konnte heute für meine Familie und mich nichts mehr organisieren. Es gab kein Brot, aber auch kein Mehl mehr.«

Zakwan, Buchhalter der freien Schulen Erbin, 22.2.2018

Gesundheitliche Versorgung

Am gravierendsten mangelt es an Behältern für Bluttransfusionen, an Antibiotika, Anästhetika, sterilem Verbandsmaterial, Insulin und Medikamenten für Herzpatienten. Immer wieder sterben Menschen an unter normalen Umständen einfach zu behandelnden Erkrankungen oder Verletzungen. Über 1000 Menschen warten dringend auf eine Evakuierung in die gut ausgestatteten Krankenhäuser im nahen Damaskus. In der Regel werden solche Evakuierungen verweigert – mit wenigen Ausnahmen. So wurden im Dezember 2017 29 PatientInnen evakuiert. Informationen zu aktuellen Fluchtbewegungen und Evakuierungen haben wir hier zusammengestellt.

»Es gibt Verletzte, die auf den Straßen liegen, aber die Bergungstruppen der Feuerwehr können sie vor lauter Beschuss nicht erreichen. Rettungswagen werden systematisch beschossen.«

Majid, 27, Medienaktivist aus Douma, 24.2.2018

Demografie Ost-Ghoutas

Welche Milizen kontrollieren Ost-Ghouta?

Die Saudi-Arabien nahestehende Islamistenmiliz Jaysh al-Islam ist die mächtigste Miliz Ost-Ghoutas, sie dominiert den Norden. Der Bevölkerung und vor allem KritikerInnen tritt sie repressiv gegenüber, mutmaßlich ist sie für die Entführung unserer Projektpartnerin Razan Zaitouneh und drei ihrer Kollegen („Douma 4“) von 2013 verantwortlich.
Jaysh al-Islam profitiert von der Belagerungssituation, weil sie Schmuggelwege kontrolliert und dabei Gebühren und Bestechungsgeld kassiert. Immer wieder haben ZivilistInnen gegen Jaysh al-Islam aufbegehrt.

Die offiziell mit der FSA zusammenhängende islamistische Miliz Faylaq al Rahman ist ideologisch flexibler als Jaysh al-Islam, aber auch sie gängelt die Zivilbevölkerung mit Willkürherrschaft. Sie kontrolliert aktuell die Stadt Erbin.

Die ehemals große islamistische Miliz Ahrar al Sham hat an Bedeutung eingebüßt: Die meisten ihrer Kämpfer wurden von Faylaq al-Rahman aufgekauft. Die wenigen übriggebliebenen Kämpfer kontrollieren das Gebiet um Harasta.

Alle drei Milizen begehen Kriegsverbrechen, unter anderem durch den Beschuss von Wohnvierteln in Damaskus, dem im Zeitraum vom 16. November bis zum 27.2 nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) 122 Menschen zum Opfer fielen.

Alle drei Milizen saßen bei Verhandlungen und Astana mit am Tisch und werden von Russland als „moderate Milizen“ betrachtet. Innerhalb der „Deeskalationszone“ Ost-Ghouta dürften sie offiziell nicht angegriffen werden. Die einzigen bewaffneten Gruppe, die von den Waffenstillstandsabkommen in Syrien ausgenommen wurden, sind der IS und HTS. Der »Islamische Staat« (IS) ist in Ost-Ghouta nicht präsent. Die aus der einst mit Al-Qaida verbündeten Jabhat al Nusra hervorgeganene „HTS“ ist in Ost-Ghouta nur mit wenigen verprengten Kämpfern präsent und kontrolliert dort keine Territorien.

Mittlerweile haben Truppen des Assad-Regimes und regimeloyale Milizen große Teile Ost-Ghoutas eingenommen und in verschiedene Zonen unterteilt. Aktuell finden Verhandlungen statt zwischen den jeweiligen Milizen, russischen Unterhändlern und Regimevertretern.

Können die Menschen aus Ost-Ghouta fliehen?

Das Assad-Regime hat über Jahre nur ausgewählten Personen ermöglicht, Ost-Ghouta zu verlassen. Selbst medizinischen Notfälle wurde in der Regel die Evakuierung verweigert. Wie schon im Falle Allepos haben das Assad-Regime und Russland Fluchtkorridore eingerichtet, nach denen ihren Angaben zufolge ZivilistInnen angeblich sicher entkommen können.

»Wir können auf keinen Fall in die Gebiete des Regimes zurückkehren, selbst wenn der Weg dorthin geöffnet wird. Dort erwartet uns der sichere Tod. Das Regime wird sich an den Menschen aus Ost-Ghouta für ihren jahrelangen Widerstand rächen.«

Huda, Leiterin des Frauenzentrums Nisaa al Ghouta, Douma

Mittlerweile sind mehrere Zehntausend Menschen in regimekontrollierte Gebiete geflohen. Zugleich flohen Tausende vor den vorrückenden Truppen ins Innere der von Milizen gehaltenen Territorien. Oft wird angesichts der mittlerweile zumindest manchen Teilen der Bevölkerung offenstehenden Fluchtwege argumentiert, wer bleibe, sei selbst schuld oder werde von den Milizen als „menschliches Schutzschild“ missbraucht. Tatsächlich ist dies den Milizen zuzutrauen. Dessen ungeachtet bleiben Bombardements auf ZivilistInnen Kriegsverbrechen.

Kurz erklärt: Fakten zu Fluchtbewegungen und Evakuierungen aus Ost-Ghouta (15.03.2018)

Viele ZivilistInnen betonen, aus Furcht vor dem Assad-Regime nicht zu fliehen: Das Regime hat die Bevölkerung Ost-Ghoutas über Jahre belagert und bombardiert. An den Checkpoints kommt es zu willkürlichen Verhaftungen, Misshandlungen und Exekutionen. Zehntausende Menschen, die oppositioneller Aktivitäten verdächtigt werden, sind in Gefängnissen des Regimes inhaftiert, in denen Massenhinrichtungen stattfinden, in denen systematisch gefoltet wird und Menschen an den Haftbedingungen sterben. Das belegen zahlreiche Quellen, unter anderem Berichte von Amnesty International.

Zum Download des Factsheets als PDF

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