Kurz erklärt: Fakten zu Fluchtbewegungen und Evakuierungen aus Ost-Ghouta

Es gibt von seriösen Quellen bestätigte Berichte über Evakuierungen und Fluchtbewegungen aus Ost-Ghouta. Dennoch müssen solche Berichte mit Vorsicht rezipiert werden, denn das Assad-Regime und Russland nutzten sie, um die Offensive auf die seit Jahren von ihnen belagerte und bombardierte Enklave als Befreiung zu inszenieren. Zudem ist “Evakuierung” im vorliegenden Kontext ein extrem zweifelhafter Begriff.

Können sich in Regime-Gebiete geflohenen Menschen frei äußern?

In deutschen und internationalen Medien und auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden aktuell Interviews mit Menschen gezeigt, die als aus Ost-Ghouta geflohene oder evakuierte Personen vorgestellt werden oder angeblich aus jüngst von Regierungstruppen eingenommenen Gebieten stammen, und die sich glücklich und dankbar dafür zeigen, “befreit” worden zu sein. Bedauerlicherweise werden solche Aussagen dabei oft nicht, wie es journalistische Standards verlangen, richtig kontextualisiert. So wurden auf einem deutschen Fernsehsender Interviews mit Geflüchteten geführt, während bewaffnete Soldaten im Hintergrund zu sehen waren.

Viele Menschen aus Ost-Ghouta schreiben auf ihren Social-Media-Kanälen derzeit Abschiedsnachrichten mit dem Motto: “Entweder seht ihr mich tot – oder im syrischen Staatsfernsehen Bashar al-Assad preisen”. Das Regime will die Offensive auf Ost-Ghouta als Befreiung der Zivilbevölkerung darstellen – einer Zivilbevölkerung, die es selbst seit 2013 belagert und bombardiert – und es zwingt dabei immer wieder Opfer seiner Strategie zu öffentlichen Aussagen, die sein Narrativ unterstützen.

Deshalb sollten insbesondere JournalistInnen wissen: Was Menschen in vom Assad-Regime kontrollierten Landesteilen gegenüber den Medien äußern, dürfte in seltenen Fällen eine freie Meinungsäußerung sein. Unter den Augen des Assad-Regimes kann sich so gut wie niemand frei äußern. Was den Menschen droht, die es wagen, Dinge zu sagen, die dem Regime missfallen, kann man den Menschenrechtsberichten zu willkürlichen Verhaftungen und zur Situation in den Gefängnissen entnehmen.

Können sich Menschen innerhalb Ost-Ghoutas frei äußern?

So wie die Propagandisten des Assad-Regimes und seiner Verbündeten behaupten, die seit Jahren von Assad belagerten und beschossenen ZivilistInnen wollten nichts lieber, als in den Schoß der Assad-Diktatur zurückzukehren, behaupten die Propagandisten der Milizen, die Zivilbevölkerung stehe geschlossen hinter den Milizen und wolle nichts lieber, als sich dem Regime bis zum letzten Blutstropfen zu widersetzen.

Beides ist Unsinn. Wie überall gehen die Meinungen der Menschen auch in Ost-Ghouta auseinander. Manche PartnerInnen von uns berichten uns, dass sie zu große Angst vor der Rache des Regimes haben, als dass sie in Regime-Gebiete fliehen könnten. Andere sagen, sie hätten aufgrund der pausenlosen Bombardements schlicht keine Ahnung, wie und wohin sie fliehen könnten. Die meisten wollen jedenfalls vor allem, dass die Bombardierungen endlich aufhören. Und manche kritisieren auch offen und scharf die Durchhalteparolen der Milizen. So schreibt eine Aktivistin aus einem Luftschutzkeller in einem Facebook-Posting an die Bewaffneten:

“Ich bin hier im Bunker mit mehr als 200 Menschen. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Sie wollen, dass die Sache eher heute als morgen vorüber geht. Sie sind vom Beschuss und der Belagerung erschöpft. Sie haben genug von den Durchhalteparolen und Erklärungen der Milizen, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, denn sie werden dem Regime nur zusätzliche Zeit geben, noch mehr von uns zu töten.”

Auch in Ost-Ghouta dürfte jeder, der sich kritisch zu den Milizen äußert, Risiken eingehen. Fakt ist aber: Menschen tun es, und sie sind, wie immer und fast überall, unterschiedlicher Meinung. So demonstrierten in Hamuria Menschen mit Flaggen des Regimes – ob aus Überzeugung oder aus der verzweifelten Hoffnung heraus, durch Unterwerfungsgesten unter das Regime ihr Leben retten zu können. Diverse bekannte zivile Aktivisten verfassten außerdem einen öffentlichen Brief, in dem sie forderten, dass wer gehen wolle auch gehen können müsse – und wer bleiben wolle, bleiben können müsse. Sie unterzeichneten allesamt mit ihren Namen.

Haben die Menschen die Möglichkeit zur Flucht, und wohin fliehen sie?

Nach Angaben des syrischen Staatsfernsehens sind am Donnerstag rund 10.000 Menschen durch einen humanitären Korridor aus der belagerten Stadt Hamuria geflohen, der vom syrischen Militär errichtet worden sein soll. Die russische Nachrichtenagentur Tass sprach von etwa 13.000 Menschen, die die Region verlassen hätte. Auch die Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldet, es seien knapp 20.000 Menschen aus dem Gebiet geflohen. Lokale Aktivisten nennen deutlich geringere Zahlen. Unklar ist, ob die oben genannten Zahlen auch Menschen in Hamuria umfassen, die nicht geflohen sind, sondern deren letzte Aufenthaltsorte von vorrückenden Truppen eingenommen wurden.

Auch unsere PartnerInnen vor Ort berichten von größeren Fluchtbewegungen, und zwar in beide Richtungen: Menschen fliehen sowohl in Regime-Gebiete als auch weg von den Frontabschnitten ins Innere der belagerten Gebiete, etwa von Hamuria Richtung Hazze oder Erbin. So gibt es zahlreiche Aussagen, dass dort Menschen aus Hamuria in die ohnehin vollkommen überfüllten Luftschutzkeller drängen.

Nach Angaben unserer PartnerInnen ist für viele Menschen die Flucht in Regime-Gebiete keine Option, da sie fürchten müssen, festgenommen, inhaftiert, gefoltert oder getötet zu werden. Dass diese Furcht begründet ist, belegen zahlreiche Menschenrechtsberichte vieler unterschiedlicher namhafter Quellen. Als besonder gefährdet gelten Menschen, die sich politisch engagiert haben, und sei es als zivile AktivistInnen in humanitären Projekten. Männer müssen generell fürchten, zwangsrekrutiert und sofort zum Kampf an der Front gewzungen zu werden. Zudem verweisen unsere Partner darauf, dass viele Menschen daon ausgehen, dass sie nach einer Flucht oder Evakuierung nicht mehr zurückkehren können. Sie verweisen etwa auf das Beispiel Daraya – der Großteil der aus der einst von Rebellen gehaltenen Stadt konnte nach der Flucht bzw. Evakuierung im August 2016 bis heute nicht zurückkehren.

Sind Evakuierungen nicht legitim, um ZivilistInnen vor den Kämpfen zu schützen?

Das Assad-Regime und seine russischen Verbündeten versuchen aktuell zu suggerieren, sie würden die Zivilbevölkerung durch Evakuierungen davor schützen wollen, bei den Kämpfen zwischen die Fronten zu geraten. Der Kontext der Situation in Ost-Ghouta verdeutlicht, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass es sich vielmehr um eine Politik der Vertreibung handelt, die als Kriegsverbrechen zu ahnden ist.

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes stellt dar, unter welchen Regeln humanitäre Evakuierungen abzulaufen haben. So müssen ZivilistInnen etwa die freie Wahl zwischen Bleiben und Gehen haben und sie müssen auch dann unter allen Umständen gegen Angriffe geschützt werden, wenn sie sich entscheiden, nicht zu gehen. Das ist in Ost-Ghouta angesichts der dort fortgesetzten Brüche des humanitären Völkerrechts durch Assad und Russland nicht der Fall. Zu den Regeln gehört auch, dass Menschen unabhängig ihrer politischen, ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit human und gemäß des internationalen Rechts behandelt werden müssen – was im Folter-Polizeistaat Syrien noch nie der Fall war. Ebenso darf persönliches Eigentum, das die Evakuierten hinterlassen, nicht angerührt werden. Doch nicht nur in Homs wurden die Häuser von Geflüchteten einfach weiterverkauft. Nicht nur in Aleppo kam es zu Plünderungen durch regimeloyale Milizen. Am fragwürdigsten: Evakuierungen müssen zeitlich begrenzt sein. Die Evakuierten müssen das Recht haben, zurückzukehren und es bedarf klarer Informationen über die Aussicht auf Rückkehr. Für zahllose Vertriebenen aus anderen “evakuierten” Städten gibt es jedoch nahezu keinerlei Aussicht auf Rückkehr.

Was von Russland, dem Regime und auch vielen internationalen und deutschen Medien euphemistisch “Evakuierung” genannt wird, ist de facto eine Vertreibung. Denn die Menschen gehen ganz offensichtlich nicht freiwillig. Es sind die heftigen willkürlichen Bombardements, die Hungerblockade und die gezielte Zerstörung der medizinischen Infrastruktur, die die Menschen in die Flucht treiben. Umstände, mit denen das Assad-Regime und Russland die Zivilbevölkerung zur Unterwerfung unter die Diktatur bewegen wollen. Auch Amnesty International klassifiziert diese Unterwerft-euch-oder-sterbt-Strategie des Assad-Regimes, die bereits in Daraya, Homs, Aleppo und zahlreichen weiteren Städten angewandt wurde, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Aber gab es nicht Evakuierungen aus medizinischen Gründen?

Bei den Evakuierungen von Schwerkranken (29 Personen) im Dezember 2017 sowie am Mittwoch (25) und am Dienstag (31) mitsamt ihrer Familien kann noch eher von humanitären Evakuierungen gesprochen werden, wobei es sich im Dezember faktisch um einen Austausch von Schwerkranken gegen gefangengenommene Soldaten handelte. Insgesamt warten der Hilfsorganisation Syrian-American Medical Society (SAMS) zufolge noch mehr als 1.000 Kranke auf Evakuierung, weil sie dringend medizinische Hilfe brauchen, die innerhalb der belagerten Zone nicht gewährt werden kann – unter anderem, da das Assad-Regime aus den Hilfslieferungen stets dringend benötigte medizinische Güter entfernt.

Adopt a Revolution unterstützt in Ost-Ghouta sieben zivile Projekte. Von der säkularen Schule im Untergrund über ein oppositionelles Tonstudio bis zur Rechtsberatung für Frauen: Mit Ihrer Arbeit setzen sich zivile AktivistInnen sowohl gegen Diktatur als auch gegen radikalen Islamismus zur Wehr. Helfen Sie mit, stärken Sie die Projekte in Ost-Ghouta mit Ihrer Spende!

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