Refugees in Europa: Fragen und Antworten

Mit den wieder neu eingerichteten Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich hat die Bundesregierung ihrem Wunsch nach „Ordnung und Sicherheit an den Grenzen“ Ausdruck verliehen – und der „Willkommenskultur“ zahlreicher freiwilliger HelferInnen vorübergehend einen Dämpfer verpasst. Die Anzahl der Ankommenden übersteigt die Einschätzungen der Regierungen, Uneinigkeit scheint auf Bundes- sowie EU-Ebene vorzuherrschen und von der anfänglichen Euphorie und dem […]

Mit den wieder neu eingerichteten Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich hat die Bundesregierung ihrem Wunsch nach „Ordnung und Sicherheit an den Grenzen“ Ausdruck verliehen – und der „Willkommenskultur“ zahlreicher freiwilliger HelferInnen vorübergehend einen Dämpfer verpasst. Die Anzahl der Ankommenden übersteigt die Einschätzungen der Regierungen, Uneinigkeit scheint auf Bundes- sowie EU-Ebene vorzuherrschen und von der anfänglichen Euphorie und dem „March of Hope“ ist dort nur wenig zu spüren. Aber warum sind eigentlich so viele Menschen auf der Flucht, besonders nach Europa? Was machen sie in Ungarn und wie sieht eigentlich die europäische Asylpolitik aus? Wir haben die wichtigsten Fragen und Antworten für Sie zusammengefasst!

In Bussen kommen die Flüchtlinge an der österreichischen Grenze an, ein Hauch von 1989 liegt in der Luft.
Flüchtlinge kommen in Bussen an der österreichischen Grenze an.
1. Warum kommen so viele Menschen als Geflohene in die EU? 

SyrerInnen stellen die größte Gruppe an Flüchtenden in die Europäische Union. Seit 2011 Aufstände gegen das Regime Assads begonnen haben, hat sich die Situation vor Ort kontinuierlich verschlechtert: Das Regime setzte von Beginn an auf einen bewaffneten Konflikt und dessen Konfessionalisierung, um so die eigene Legitimität zu erhöhen. Daraus haben sich die jetzt – nach über vier Jahren – die bestehenden Fluchtgründe entwickelt: Politische Verfolgung, Bürgerkrieg, wirtschaftlicher Zusammenbruch, religiöser Extremismus.

In einigen Gebieten wüten die globalen Dschihadisten von ISIS und verfolgen Andersgläubige, darunter etwa mit dem massiven Angriff auf die als religiös-liberal geltenden KurdInnen in Kobani im vergangenen Jahr. In anderen Gebieten sind es die Belagerung durch das Assad-Regime und der tägliche Beschuss mit Fassbomben, die Menschen zur Flucht zwingen. Beim Beschuss ziviler Ziele durch Regime kommen übrigens noch immer sieben Mal mehr ZivilistInnen ums Leben als druch die Gewalt der ISIS-Terrororganisation. Schließlich fliehen Menschen aus Syrien aber auch aufgrund der anhaltenden politischen Verfolgung durch verschiedene oppositionelle Gruppen oder das Assad-Regime.
Auch wenn derzeit viele Menschen nach Europa kommen gilt: Noch immer ist die große Mehrheit der SyrerInnen innerhalb des Landes auf der Flucht und zudem deutlich mehr in den direkten Nachbarländern als hier. Mindestens sieben Millionen SyrerInnen haben sich innerhalb des Landes vor dem Konflikt in Sicherheit gebracht, zusammengenommen etwas vier Millionen in den Nachbarstaaten. Dabei trägt der Libanon mit über einer Millionen Flüchtlinge bei gerade einmal vier Millionen EinwohnerInnen die größte Last, aber auch Jordanien, Irak und die Türkei imense Leistungen bei der Flüchtlingsaufnahme vollbracht.
Zudem sind noch immer Menschen aus Afghanistan, Pakistan, dem Irak, dem (westlichen) Balkan und dem subsaharischen Afrika unterwegs, da auch dort noch immer Konflikte herrschen, die es den Menschen unmöglich machen, zu bleiben. Von den Medien oft vergessen, hat der aktuelle Machthaber Eritreas, Isaias Afewerki, ein extrem repressives System aufgebaut, indem Menschen willkürlich festgenommen und brutal gefoltert werden, verschwinden oder umgebracht werden. Die EritreerInnen bilden hierzulande nach den SyrerInnen die zweitgrößte Gruppe an Geflohenen. Fluchtgründe gibt es in der Welt genügend und auf der anderen Seite gibt es auch das Recht auf Asyl, allein der Fluchtweg trennt beide voneinander. 
2. Warum kommen die Menschen ausgerechnet jetzt?
Während es den meisten Flüchtenden zu Beginn der Auseinandersetzung in Syrien wichtig war, in der Nähe ihrer Heimat zu bleiben, um möglichst schnell zurückkehren zu können, sobald sich die Lage ändert, macht sich inzwischen Hoffnungslosigkeit breit: Nach unzähligen gebrochenen Versprechen, eine politische Lösung für den Konflikt zu erarbeiten oder zumindest die unmittelbare Gewalt zu beenden, wollen sich immer mehr Menschen im Ausland eine Zukunft aufbauen. Hinzu kommt, dass es der internationalen Gemeinschaft nicht einmal gelingt, die Versorgung der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten sicherzustellen: Bis heute hat UNHCR nur 37% der Summe zugesagt bekommen, die 2015 für die Versorgung der Geflüchteten in den Nachbarstaaten notwendig wäre.
Ein weiterer wichtiger Grund ist der nahende Herbst: Weil es für SyrerInnen quasi keine legale Möglichkeit gibt, in die EU einzureisen, müssen fast alle als ersten Schritt, über das Mittelmeer nach Griechenland oder Italien gelangen. Doch die Überfahrt in kleinen Booten wird im Herbst und Winter wegen des schlechten Wetters noch gefährlicher, so dass jetzt viele Menschen noch versuchen, das Meer zu überqueren, bevor es zu gefährlich wird. Schließlich spielt auch eine Rolle, dass auch unter Geflüchteten außerhalb der EU die Nachricht die Runde macht, dass seit Anfang September die Grenzen etwa von Ungarn nach Österreich und weiter nach Deutschland offen sind. Das motiviert viele, die seit Monaten in Griechenland festgesessen waren, nun die Chance zu ergreifen, um weiterreisen zu können.
3. Wieso sitzen so viele Menschen in Ungarn fest?

Ungarn liegt auf einer der Hauptmigrationsrouten von Griechenland in den Rest der Europäischen Union. Aufgrund der so genannten Dublin-Verordnungen sind in der EU diejenigen Staaten für ein Asylverfahren zuständig, in der die Flüchtenden das erste Mal europäischen Boden betreten. Für die meisten ist das Griechenland oder Italien, so dass dort wegen der Überforderung der Staaten die Bedingungen für Asylsuchende besonders schlecht sind. Viele versuchen ihren Weg fortzusetzen, auch, weil Abschiebungen nach Griechenland ausgesetzt sind. Bevor sie nach Ungarn gelangen, durchqueren sie dabei häufig Mazedonien und Serbien, beides EU-Beitrittskandidaten. 

Seit Juni 2015 stellt Mazedonien ein Transit-Visum für Geflüchtete aus, was eine Wende in der Flüchtlingspolitik des Landes darstellt: Bis vor Kurzem wurden Menschen noch interniert und in „Lagern“ festgehalten, nun sollen sie möglichst schnell das Land weiter in Richtung Norden verlassen. Auch Serbien sieht in der aktuellen Krise Europas eine Chance, die Flüchtlinge schnell wieder los zu werden: Anstatt keine Flüchtlinge mehr ins Land zu lassen, hat Serbien darauf gesetzt, den Menschen ein 72-Stunden-Visum auszustellen. Damit sollen diese Menschen die Möglichkeit bekommen, das Land legal zu durchqueren und weiter nach Ungarn zu reisen. Als Reaktion darauf baut Ungarn derzeit entlang der Grenze zu Serbien einen Stacheldrahtzaun. Zudem kontrolliert mittlerweile auch das ungarische Militär die Grenze. 

Doch auch in Ungarn sind die Bedingungen für Asylsuchende katastrophal: Die rechtsgerichtete Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orban setzt bewusst darauf, Menschen abzuschrecken. Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Übergriffen durch Hooligans aber auch die Polizei. Der ungarische Staat tut zudem so wenig wie möglich, um Flüchtende zu versorgen. Als über 3.500 Menschen am Bahnhof Keleti Mitten in der Hauptstadt Budapest auf ihre Weiterreise warteten und im Freien kampieren mussten, stellte ihnen der Stadtverwaltung erst nach drei Tagen einen Wasseranschluss zur Verfügung, sowie gerade einmal sechs Toiletten.
Gleichwohl ist Ungarn aufgrund rechtlicher Vorgaben der EU verpflichtet, Flüchtlinge zu registrieren und das Asylverfahren durchzuführen – eine Pflicht, der der Staat nachkommt, wenn auch widerwillig.
4. Warum haben sich die Geflohenen nun dazu entschlossen, nach Österreich zu laufen?
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Die Geflohenen marschieren zu Fuß von Budapest zur Grenze Österreichs.

Im Verlauf der letzten Woche hat sich die Situation in Ungarn noch einmal verändert: Anfang September hatte die ungarische Polizei überraschend aufgehört, die Geflohenen am Besteigen der Züge nach Westen zu hindern. Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zuvor angekündigt hatte, keine syrischen Geflüchteten mehr in andere EU-Staaten zurückzuschicken, auch wenn das Dublin-Verfahren weiter gültig sein sollte.

Am Tag vor dem „March of Hope“ genannten Fußmarsch Richtung Österreich wurde ein Zug, der schon Richtung Westen unterwegs war, 30 km von Budapest entfernt angehalten. Die ungarischen Behörden wollten die Geflohenen aus dem Zug in ein nahegelegenes Aufnahemlager bringen. Diese hatten jedoch ein Zugticket bis Österreich gelöst und weigerten sich, den Zug zu verlassen. Nachdem die Situation ca. einen Tag anhielt, machten sich schon von dort aus einige Geflohene auf dem Weg entlang der Schienen Richtung Österreich, wurden aber bald darauf gestoppt und von der Polizei zurückgebracht.
Zeitgleich drängten am Budapester Bahnhof Keleti im Verlauf der Tage weitere tausende Flüchtlinge, die ebenfalls in die westlichen EU-Staaten weiterreisen wollten. Weil ihnen die Weiterfahrt verwehrt wurde, entschlossen sie sich kurzerhand rund 2.000 Flüchtlinge, zu Fuß auf der Autobahn Richtung Wien loszulaufen. Nachdem bereits der von Flüchtlingen besetzte Zug ein riesiges internationales Medienecho hervorgerufen hatte und die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge in Ungarn leiden verbreitet wurde, steigerte der Fußmarsch den politischen Druck noch. Spät in der Nacht von Freitag auf Samstag gaben die österreichische und die deutsche Regierung bekannt, dass sie die Flüchtlinge aus Ungarn aufnehmen würden, um die humanitäre Katastrophe zu beenden. Die ungarische Regierung schickte daraufhin Busse los, um die Flüchtenden zur österreichisch-ungarischen Grenze zu bringen, die sie ohne Kontrollen passieren konnten.
5. Wie sieht die Europäische Asylpolitik aus?
Selbst wenn es europaweit das Grundrecht auf Asyl gibt, baut die europäische Migrationspolitik derzeit auf zwei Grundpfeiler: Zum einen Abschottung nach außen, zum anderen die so genannten Dublin-Verordnungen.
Die Abschottungspolitik führt dazu, dass es für Flüchtende extrem schwer ist, Europa auf legalem Wege zu erreichen. Selbst wer später einen Asylstatus bekommt, wie das derzeit bei nahezu allen SyrerInnen der Fall ist, hat kaum eine Möglichkeit, legal in die Europäische Union einzureisen. Stattdessen grenzt sich die EU ab und ermöglicht damit erst das Geschäft der Schlepper, die Flüchtende illegal in die EU bringen. Das ist absurd, denn nachdem in diesem Jahr viele Menschen auf dem Weg über das Mittelmeer ertrunken sind, setzt die EU unter anderem darauf, Schlepper zu verfolgen und ihre Boote zu zerstören. Beeindruckend symbolisiert wurde diese Abschottungspolitik vom Bild des 3-jährigen Ayland Kurdi, dessen Leiche Anfang September am Strand im türkischen Bodrum angschwemmt wurde, nachdem er auf der Überfahrt von der Türkei auf die griechische Insel Kos ertrunken war.
Der zweite Pfeiler sind die Dublin-Verordnungen, die dazu geführt haben, dass insbesondere Staaten in Südeuropa von der großen Anzahl an Flüchtlingen überfordert sind. Während sich die Bundesregierung noch vor zwei Jahren massiv für einen Beibehalt der Regeln der Dublin-Verordnung eingesetzt hat, verändert der aktuelle Zustrom von Asylsuchenden nach Deutschland diese Position: Auf EU-Ebene setzt sich Deutschland wie Schweden jetzt massiv dafür ein, Flüchtlinge nach einer festen Quote auf die verschiedenen EU-Staaten zu verteilen. Dagegen stellen sich jedoch insbesondere die östlichen Mitgliedstaaten der EU, Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen.
6. Wie hält es die EU mit der Bekämpfung Fluchtursachen?
In der Rhetorik nimmt die Bekämpfung von Fluchtursachen bei vielen europäischen PolitikerInnen eine zentrale Rolle ein – doch in der Realität ist davon wenig zu sehen. Am Beispiel Syrien würde das bedeuten, endlich deutlich mehr Energie darauf zu verwenden, eine politische Lösung für den Konflikt zu erreichen und in Syrien Sicherheit zu schaffen. Hierzu gehört etwa die Türkei dazu zu bringen, ihre Grenze zu Nordsyrien für wichtige Hilfsgüter zu öffnen. Zudem wäre ein wichtiger Beitrag, die Resolution 2139 des UN-Sicherheitsrats vom 22. Februar 2014 durchzusetzen. Diese fordert das Ende der Belagerung ganzer Städte und Stadtteile und untersagt den Einsatz von Fassbomben. Diese Waffen töten besonders viele ZivilistInnen, da sie in der Regel von Helikoptern aus großer Höhe auf bewohnte Gebiete abgeworfen werden. Ihr militärischer Nutzen ist gering, aber sie terrorisieren die Bevölkerung und zwingen sie so in die Flucht.
Mit einem Aufruf fordern syrische AktivistInnen ein Ende des Einsatzes von Fassbomben und eine gerechte Friedenslösung für Syrien. Sie fordern die internationale Gemeinschaft zur Unterstützung auf, weil SyrerInnen den Konflikt in ihrem Land längst nicht mehr alleine beenden können. Unterstützen Sie den Aufruf!

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