Gespräch über kurdische Gebiete: „Eine Befreiung war das nicht“

Unsere Korrespondentin Sophie spricht in Istanbul weiter mit jungen Syrern über ihre Sicht auf den Konflikt. M. aus dem kurdischen Teil Syriens ist froh, dass dort Ruhe herrscht, berichtet aber auch von Schutzgeldern, die seine Familie zahlen muss und der Kontrolle des Regimes. Ein Teil von M.’s Familie ist türkisch. Er ist gestern hier angekommen, […]

Unsere Korrespondentin Sophie spricht in Istanbul weiter mit jungen Syrern über ihre Sicht auf den Konflikt. M. aus dem kurdischen Teil Syriens ist froh, dass dort Ruhe herrscht, berichtet aber auch von Schutzgeldern, die seine Familie zahlen muss und der Kontrolle des Regimes.

Ein Teil von M.’s Familie ist türkisch. Er ist gestern hier angekommen, um in der Türkei eine zweite Staatsbürgerschaft zu beantragen und im Ausland seine Doktorarbeit schreiben zu können. Er selbst lebt mit seiner Familie in Qamishli, im kurdischen Nordosten Syriens an der türkischen Grenze. Er ist Araber, kein Kurde. Momentan wird viel gesprochen über die Situation in den kurdischen Gebieten Syriens. War das wirklich eine Befreiung? Wer kontrolliert das Gebiet? Was macht die PYD, der syrische Zweig der PKK dort? Abseits aller Zukunftsspekulationen kann M. berichten, wie der Alltag dort momentan aussieht.

„Die Armee und die Sicherheitskräfte Assads haben Qamishli vollständig verlassen. Es gibt auch keine FSA dort. Für die Sicherheit ist jetzt die PYD zuständig. Es gab eine Art Übernahme der gesamten Infrastruktur. Die PYD ist meiner Meinung nach eigentlich genau das gleiche wie der syrische Sicherheitsdienst. Sie sitzen in den gleichen Büros, machen die gleiche Arbeit – allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Sie attackieren keine Leute und ich als Araber fühle mich von der PYD auch nicht bedroht. Wir können momentan in Qamishli ein völlig normales Leben führen. Die Stadt ist ruhig, die Straßen sind sicher, es gibt keine Übergriffe mehr. Aber eine Befreiung war das nicht. Die Assad-Truppen können jederzeit ohne Probleme zurückkommen. Vor wenigen Tagen zum Beispiel ist eine Einheit des Regimes mit Panzern ungehindert in Ruwayran, einen Stadtteil von Al Hasaka einmarschiert. Da gab es vorher Unruhen. Ich meine, die PYD hat auch keine Waffen. Selbst wenn die wollten, könnten die gar nichts großes gegen das Regime oder aber gegen die Revolutionäre unternehmen. Und auch wenn die PYD nur der Statthalter des Regimes ist, für uns ist die Situation so insgesamt besser.
Meine Familie würde ich mal als Bourgeoisie bezeichnen. Zusammen mit anderen sammeln wir Geld und zahlen „Spenden“ an die PYD, so circa 40.000 Lira jeden Monat. Das sind natürlich keine Spenden, das ist eine Art Schutzsteuer dafür, dass nichts passiert. Da hat sich also auch nichts geändert: Vorher haben wir Geld an die Sicherheitskräfte des Regimes gezahlt, damit wir in Ruhe gelassen werden. Gut ist natürlich, dass jetzt viele Flüchtlinge nach Qamishli und in andere Städte kommen können, weil es hier ruhig und sicher ist. Allerdings gab es da auch schon Probleme. Zum Beispiel mit ein paar Flüchtlingen aus Deir Az-Zur. Die kurdischen und christlichen Frauen in Qamishli sind relativ modern gekleidet, tragen selten Hijab und oft T-Shirts. Also, einige Männer aus Deit Az-Zur haben permanent versucht sie anzugraben und ihnen irgendwas auf der Straße hinterher gerufen. Das gab es dann eben ein bisschen Stress zwischen den Einheimischen und denen. Ansonsten ist bei uns momentan alles sehr ruhig. Ich verstehe, was das Regime davon hat, der PYD unsere Stadt übergeben zu haben. Was ich nicht verstehe ist, was die PYD sich davon verspricht.“

 

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