Demonstration am Tahrir-Platz in Bagdad am 17. November 2019

Irak: „Es geht nicht um Reformen oder Neuwahlen – es geht um unsere Rechte“

Was treibt die Menschen im Irak auf die Straße? Sami Adnan ist einer von Tausenden, die in Bagdad protestieren. Wir haben ihn zu den Gründen der aktuellen Revolte und zu den Hoffnungen seiner Generation interviewt.

Demonstration am Tahrir-Platz in Bagdad am 17. November 2019

Sami Adnan ist Gründer der politischen Gruppe „Workers against Sectarianism“ und seit vielen Jahren politischer Aktivist. Der 28-jährige Bagdader ist Buchhalter – derzeit aber arbeitslos. Das Los teilt er sich mit mindestens 16 Millionen Menschen im Irak. Mit ihm haben wir über die Situation im Irak, seine Hoffnungen und die Aussichten auf Protestallianzen im Nahen Osten gesprochen.

Seit dem 1. Oktober finden Proteste und Demonstrationen auf den Straßen Iraks, insbesondere in Bagdad, Basra und anderen südlichen Städten statt. Wer protestiert da?

Tausende Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft beteiligen sich an den Protesten im Irak.

Eigentlich alle Teile der Gesellschaft. Zum einen die Arbeiterklasse, darunter Arbeitslose und Menschen in fragilen Beschäftigungsverhältnissen. Aber auch Studierende und sogar die Mittelklasse: Staatsbedienstete, Anwält*innen, Kaufleute, Intellektuelle, Universitätsprofessor*innen, Ärzt*innen, etc. partizipieren in den Demonstrationen. 70 Prozent der Demonstrierenden gehören keiner Partei an. Die anderen 30 Prozent sind Parteimitglieder, aber sie erscheinen nicht als Mitglieder ihrer Parteien auf dem Platz. Das Bündnis ist breit – die Unzufriedenheit betrifft fast alle Menschen. Denn im Irak fehlt es im Allgemeinen an einer Grundversorgung, das betrifft alle Menschen, sowohl die Arbeiterklasse als auch die Mittelschicht.

Die mangelnde Grundversorgung ist also Auslöser der Proteste?

Das sektiererische politische System des Irak …
… wurde nach der US-Invasion 2003 eingeführt und basiert auf einem Quotensystem für die religiösen Gruppen im Land: die Mehrheit der Schiiten, die Minderheiten der Sunniten, Kurden, Christen. Zwar wird im Irak regelmäßig gewählt, das staatliche System begünstigt aber Korruption, weil es auf Gräben und Tren-nung aufbaut. Bewaffnete Milizen, von denen viele unter iranischem Einfluss stehen, haben so den Staat gekapert und kontrollieren das wirt-schaftliche und politische Leben im Irak.

Nicht alle Bürger*innen werden mit ausreichend Strom und Trinkwasser versorgt. Das ist ein fundamentales Problem. Das ist aber nicht der ausschließliche Grund für die Proteste. Das Land befindet sich generell in einer Schieflage, wir leiden unter einer hohen Arbeitslosenquote, gerade in der jungen Generation. Offiziell haben wir 13 Millionen Arbeitslose. Aber ich würde sagen, es sind noch mehr – die Hälfte der Bevölkerung oder etwa 19 Millionen Menschen. Außerdem sind die Staatsapparate geprägt von Korruption und Misswirtschaft. Deshalb fordern wir den Sturz des gesamten politischen Systems, das seit der US-Invasion das Land in sektiererische Richtungen teilt und für die meisten Iraker*innen kaum mehr als Gewalt und Armut hervorgebracht hat. Wir wollen Arbeitsmöglichkeiten, eine Arbeitslosenversicherung, Strom, Grundversorgung, ein Ende der Herrschaft der Milizen, ein Ende der Korruption und der Fremdherrschaft – insbesondere der iranischen, aber auch der US-Herrschaft.

Die Regierung hat Reformen und Neuwahlen versprochen. Warum gehen die Proteste weiter?

Die Proteste dauern an

Die Iraker*innen wollen keine Reformen oder Neuwahlen. Es geht nicht darum, das Regime der Kriminellen zu ändern, wir wollen mehr als kleine Zugeständnisse. Wir wollen das sektiererische System und die Verfassung vollständig und radikal verändern. Das geht mit dieser Regierung nicht – sie ist Teil des Problems. Außerdem haben wir kein Vertrauen in die Regierung. Sie hat uns beispielsweise auch eine Arbeitslosenversicherung angeboten. Aber niemand hat dieses Angebot angenommen, weil die Leute der Regierung nicht glauben. Sie und das sektiererische System haben uns Iraker*innen seit 2003 bis heute schon vieles versprochen – nichts davon wurde umgesetzt. Unsere Lebensumstände haben sich nicht verbessert.

Auf die anhaltenden Proteste reagiert die irakische Regierung mit enormer Unterdrückung: Bereits jetzt wurden mehr als 300 Demonstrierende getötet und 15.000 verwundet.

Demonstrierende lassen weiße Luftballons steigen, um zu zeigen, dass ihre Demonstrationen friedlich sind.
Lustig anmutendes Bild mit ernstem Hintergrund. Die Botschaft an die Sicherheitskräfte: Was kann ich noch tun, um zu beweisen, dass ich friedlich bin?

Diese Regierung hat Blut an den Händen. Wir haben unsere Freund*innen und Nachbar*innen verloren. Wir wollen nicht, dass diese Kriminellen uns regieren. Gerade deshalb gehen auch unsere Proteste weiter. Und die Zahl der Demonstrierenden steigt sogar. Das Bewusstsein für die Probleme wird größer und die Iraker*innen haben alle derzeitigen Parteien ausprobiert – aber alle sind gescheitert, sie haben die Krisen nicht in den Griff bekommen. Stattdessen haben sich diese sogar noch verschärft. Was würdet ihr tun? Sicherlich würdet ihr euch auch versammeln und protestieren!

Es gibt oft kein Internet – die Regierung schaltet es aus, um die Proteste zu behindern. Wie vernetzt ihr euch?

Die Unterbrechung des Internets aufgrund der Demonstrationen ist ein neuer Präzedenzfall im Irak. Anfang Oktober wurde das Internet für zwei Wochen ganz abgeschaltet. Es war eine Überraschung für die Demonstrierenden und wir wussten nicht, wie wir uns verhalten sollen. Aber das Mobilfunknetz funktionierte noch. Nach wie vor wird das Internet regelmäßig abgeschaltet. Wir haben ca. drei Stunden Internet am Tag. Jede*r weiß, dass die Regierung gewaltsam gegen die Demonstrationen vorgeht, wenn das Internet abgeschaltet ist. Wenn das Internet ausgeschaltet ist, treffen wir uns auf dem Tahrir-Platz in Bagdad und auf öffentlichen Plätzen in anderen irakischen Städten.

Der Tahrir-Platz ist einer der zentralen Orte der Proteste und ist eine Miniaturwelt des nicht-sektiererischen Widerstands. Was genau geschieht dort?

Der Tahrir-Platz ist das Epizentrum der Proteste und seit ihrem Beginn besetzt. Er ist jetzt eine revolutionäre Zone und fungiert als eine Art Begegnungsstätte. Wir haben Bereiche mit kostenlosem Essen, Elektrizität und Wasser zum Waschen und Duschen eingerichtet. Außerdem gibt es Orte zum Lesen von Büchern und ein Zelt für die medizinische Versorgung. Einige Zelte repräsentieren bestimmte Regionen des Irak, Rentner oder Berufsgruppen wie Ingenieurverbände, etc. Zwischen ihnen finden Treffen statt, bei denen sie Alltagsfragen besprechen, aber auch Fragen der Führung, das Schreiben einer neuen Verfassung oder das Abhalten von Seminaren über verschiedene politische Themen diskutieren.

Der Tahrir-Platz in Bagdad – das Epizentrum der irakischen Revolution

In diesen Meetings können sie sich mit anderen Gruppen, beispielsweise Händlern, verbinden. Diese haben einen Teil der kostenlosen Lebensmittel und Waren bereitgestellt, einschließlich kostenloser Elektrizität. Die Händler haben ihr eigenes Interesse daran, die Herrschaft der Milizen loszuwerden: Milizen nehmen ihnen illegal Schutzgeld ab. Die Händler haben die Nase voll von diesem System und wollen es loswerden.

Eine interessante Rolle nehmen die Tuk-Tuk-Fahrer ein. Während sie in der Gesellschaft marginalisiert waren, wurden sie für die Proteste schnell sehr wichtig. Warum?

Das dreirädrige Tuk Tuk wurde schnell zum Symbol der Revolution: Als Transportmittel für Demonstrierende oder als Krankenwagen.

Tuk-Tuk-Fahrer haben die ganze Revolution erst ermöglicht. Sie transportierten die Verletzten, ansonsten lägen die Leichen immer noch auf dem Tahrir-Platz. Sie transportierten Lebensmittel zu den Demonstrierenden und halfen bei der Besetzung von Gebäuden. Die Menschen fingen an sie zu lieben und Tuk-Tuk-Fahrer begannen stolz auf ihren Beruf zu sein. Revolutionäre Lieder wurden über die Tuk-Tuk-Fahrer geschrieben und sie finden jetzt eine breite Anerkennung bei verschiedenen sozialen Schichten.

Die meisten der Leute, die Tuk-Tuk-Fahrer sind, haben das Tuk-Tuk gekauft, weil sie Arbeit brauchten. Die meisten wollen einen “echten” Job, außer Tuk-Tuks zu fahren. Einen, der ihnen ein angemessenes Einkommen verschafft. Aber es gibt keine Alternative. Jetzt sind sie das Symbol der Revolution.

Für wie realistisch hältst du es, dass die Protestbewegung ihre Ziele erreicht?

Mit friedlichem Protestdruck können wir zumindest schon mal Grundrechte wie Strom, sauberes Wasser und Arbeitsplätze regeln. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir hier unsere Forderungen durchsetzen können. Aber die Krise im Irak und auch im ganzen Nahen Osten ist sehr tief und lässt sich durch den Irak allein nicht lösen. Länder wie der Iran, die Türkei, die USA und China kontrollieren derzeit das wirtschaftliche und politische Schicksal des Irak. Diese Länder müssen ihre Herrschaft aufgeben, damit der Irak sein wirtschaftliches und politisches Schicksal selbst bestimmen kann.

Das Problem kann also länger dauern, bis es gelöst ist. Aber ich bin sehr optimistisch, was die Fähigkeiten des irakischen Volkes betrifft, eine Alternative und eine irakische Lösung zu finden. Wir haben große Hoffnungen und uns eint eine große Entschlossenheit. Das irakische Volk bereitet sich auf alle möglichen Szenarien vor, wie eine iranische Militärbesetzung.

In Syrien sind die Protestbewegungen blutig niedergeschlagen worden, Assad führt seitdem einen grausamen Kampf gegen die eigene Bevölkerung. Habt ihr Angst, dass euch dasselbe Schicksal ereilt?

Bisher sind natürlich alle Szenarien möglich – das ist uns sehr bewusst. Aber wir können nicht einfach nach Hause gehen, wir wollen unsere Rechte! Der Iran droht uns mit einem Bürgerkrieg im Irak. Seine Milizen verfügen über viele Waffen. Wir sind besorgt über diese Milizen und es gibt ja bereits brutale Angriffe auf die Demonstrierenden. Aber wir halten zusammen. Die Iraker*innen zeigen große Solidarität mit den Demonstrierenden und ihren Familien in allen irakischen Städten. So ist das Gespenst des Bürgerkriegs weit entfernt von den Köpfen der Iraker*innen.

Von Beirut über Damaskus bis nach Bagdad“ – die Solidarität ist nicht nur innerhalb des Iraks sehr groß. Was haben die Bewegungen im Libanon, Syrien und dem Irak gemeinsam?

Die Solidarität zwischen den Revolutionen der Länder im Nahen Osten ist groß.

Tatsächlich geht die Solidarität von Teheran nach Bagdad, Damaskus und Beirut. Es ist keine arabische Revolution, sondern eine Revolution angesichts des sektiererischen Systems, das sich von Teheran bis Beirut erstreckt. Ich denke, die Menschen im Nahen Osten wissen, dass sie das sektiererische System nicht durch eine Revolution in einem oder einer Region loswerden können. Daher ist die Solidarität so hoch und faszinierend.

Im Iran gibt es ein Graffiti, das sagt: Eine Klasse und ein Kampf gegen ein Regime. Solidarität mit den Demonstrationen im Irak! Es wurde auch eine Flagge der Solidaritätsländer gehisst. Es gibt hier ähnliche Forderungen: Das Ende des sektiererischen Systems, Trennung von Staat und Religion, Entmachtung der Milizen, Ende der Korruption, Schaffung von Arbeitsplätzen und eine Arbeitslosenversicherung. Elektrizität und Grundversorgung, Sicherheit, Frieden und Freiheit. Leider gibt es noch kein Netzwerk zwischen allen Revolutionsbewegungen.

Bei aller Solidarität: Die syrische Revolutionsflagge wird im Irak nicht gern gesehen. Was ist der Grund dafür?

Im Irak und in Bagdad haben wir kein gutes Bewusstsein über die syrische Revolution. Die Informationen, die wir bekommen haben, sind von den politisch-islamischen Systemmedien. Deshalb glauben viele Menschen, dass diese Flagge für islamistische Gruppierungen wie beispielsweise Al-Nusra oder den IS stehen. Wegen dieser Islamisten ist der Irak bombardiert worden. Außerdem haben die Menschen Angst, dass die irakische Revolution von islamistischer Ideologie beeinflusst werden könnte. Das wollen sie verhindern, deshalb werden die syrischen Revolutionsfahnen nicht gerne gesehen. Wir wissen einfach nicht, wer sie benutzt.

Hast du eine Botschaft an die deutsche Regierung, bzw. andere EU-Staaten oder die USA? Gibt es Forderungen an das Ausland?

Die EU-Staaten und die USA sollen aufhören Waffen herzustellen und zu verkaufen, denn durch diese sterben wir!

Die meisten Milizen nutzen Waffen aus der Türkei, dem Nordirak und dem Iran, von denen die meisten in den USA und Europa hergestellt werden. Am Ende sterben wir und sie verdienen Geld.

Wir Iraker und die Völker des Nahen Ostens befinden sich wegen ihres Schweigens und ihrer Sorge um eigene Interessen in dieser schlimmen Situation. Wir haben das Gefühl, dass wir allein diesen übergroßen, kriminellen Kräften gegenüberstehen. Wir wissen jetzt, dass sich alle Mächte nur für unser Öl interessieren. Auf dieser Grundlage werden wir gesehen und nicht auf der, dass wir Menschen sind. Die Vereinten Nationen sollten helfen die Situation zu lösen und die Regierung zum Rücktritt auffordern. Aber auch die UN wahrt nur die Interessen ihrer Mitglieder.

Meine zweite Botschaft richtet sich an humanitäre politische Akteure: Wir sind bereit zur Zusammenarbeit und es gibt wunderbare und mutige zivilgesellschaftliche Organisationen und Aktivist*innen. Aber wir wissen, dass wir alleine die Situation nicht ändern können. Wir brauchen eine globale Präsenz in Bezug auf Organisation und Aktivismus im Irak. Wir brauchen Sie, um das Recht auf friedliche Demonstrationen im Irak zu schützen und durchzusetzen. Wir brauchen den Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Wir Aktivist*innen haben Angst und es gibt niemanden, der uns schützt. Die Regierung versucht zu verhindern, dass Aktivist*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit unseren Forderungen auf der ganzen Welt solidarisch sind, in den Irak kommen und hier arbeiten. Dabei ist Bagdad eine wunderbare Stadt und die Menschen hier sind sehr großzügig und freundlich.

Lasst uns nicht im Stich!