Die türkische Stadt Antakya liegt in Trümmern.

Syrische Erdbebenopfer: „Wir haben nichts mehr, aber auf Hilfe von der Türkei brauchen wir nicht zu hoffen“

In den von den Erdbeben betroffenen türkischen Gebieten leben sehr viele syrische Geflüchtete. Auch viele unserer ehemaligen Partner*innen befinden sich mittlerweile dort, beispielsweise in Gaziantep oder Antakya. Sie alle sind von den schweren Erdbeben unmittelbar betroffen. Unser langjähriger Partner Issa al-Mohammad von den Human Rights Guardians hat uns berichtet, wie die Situation für Syrer*innen vor Ort gerade ist.

Die türkische Stadt Antakya liegt in Trümmern.

Issa al-Mohammad ist ein langjähriger Partner von den Human Right Guardians, eine Menschenrechtsorganisation, deren Anwält*innen und Rechercheur*innen akribisch Einzelfälle in ganz Syrien dokumentieren und sich für die Aufklärung dieser Verbrechen einsetzt. Sie suchen Zeug*innen auf, sammeln alle verfügbaren Belege und versuchen so nachzuweisen, in wessen Gewalt sich ein*e Verschwundene*r wahrscheinlich befindet. Die gesammelten Informationen geben sie an die zuständigen Stellen der Vereinten Nationen weiter, um auf diese Weise zur Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen beizutragen. Dafür ist Issa zuständig. Seit seiner Flucht vor dem Assad-Regime koordiniert er die Arbeit von Antakya aus und schreibt die Berichte mit den Informationen, die er von drinnen bekommt. Jetzt liegen sowohl das Büro, als auch sein Zuhause in Trümmern. Die wertvolle Arbeit kann vorerst nicht gemacht werden, dabei gehen die Menschenrechtsverletzungen in Syrien weiter – auch von türkischer Seite.


Du lebst seit elf Jahren in Antakya. Kein Ort wurde bei den Erdbeben so zerstört wie dieser. Wie geht es dir und deiner Familie?

Es ist gerade sehr schwer. Meine Frau, meine Kinder, wir haben alle wie durch ein Wunder überlebt. Aber wir haben unsere Nachbar*innen, unsere Freund*innen, unsere Bekannten und Arbeitskolleg*innen verloren. Und unser Zuhause. Ich lebe hier seit mittlerweile elf Jahren. Mit jeder Straße verbinde ich eine Erinnerung. Und jetzt ist auch nicht mehr als Erinnerungen. Die Stadt ist zu einer Geisterstadt geworden

Antakya ist zu Ende. Es bleibt nichts mehr außer Leichen unter den Trümmern und einige wenige Menschen vor Ort, die darauf warten, die Leichen ihrer Liebsten entgegenzunehmen von den Rettungskräften. Ich kenne viele Vermisste, ich habe so viel Angst. Meine Kinder können kaum noch schlafen, weil sie Panik vor einem erneuten Erdbeben haben. Wir müssen jetzt wieder bei Null anfangen. Es ist kaum zu ertragen.

Ihr seid unmittelbar betroffen, das Haus, in dem ihr gewohnt habt, gibt es nicht mehr. Wie und wo lebt ihr jetzt?

Die Situation ist schlimm und es ist sehr schwer eine Unterkunft zu finden. Es gibt keine ordentlichen Notunterkünfte. Unser Büro in Antakya ist nach dem zweiten Erdbeben komplett im Schutt verschwunden. Es ist einfach alles weg.

Eine Woche nach den Erdbeben kamen wir in einer Studierendenunterkunft in Mardin unter. Aber wir wussten, dass sie uns jederzeit rausschmeißen können. Deshalb haben wir versucht schnell etwas Anderes zu finden. Dabei sind wir bis jetzt kaum fähig irgendetwas zu tun. Wir stehen immer noch unter Schock, unsere psychische Verfassung ist sehr schlecht. Gleichzeitig hat der Rassismus hier in der Türkei gegen Syrer*innen massiv zugenommen. Selbst meine Kinder wurden sogar in der Notunterkunft rassistisch so erniedrigt, dass sie lieber auf der Straße bleiben wollten, anstatt das ertragen zu müssen.

Wir sind trotzdem 20 Tage hier geblieben, aber dann wurden wir tatsächlich vor die Tür gesetzt. Wir sind jetzt in Nusaybin, das ist eine Grenzstadt in der Nähe von Qamishli und über 500 Kilometer entfernt von Antakya. Wir haben hier eine Wohnung gemietet. Aber die ist total leer. Ich weiß nicht, wie und mit welchem Geld wir sie einrichten können.

Erhaltet ihr Hilfe?

Wir Syrer*innen können gerade eigentlich nur auf unsere eigenen Netzwerke setzen. Türkische Staatsangehörige gehen vor, aber selbst Syrer*innen mit türkischer Staatsbürgerschaft werden beispielsweise bei Wohnungsvermietungen diskriminiert. Alle wurden eingebunden beim Zeltaufbau nach den Erdbeben. Aber als die Zeltstädte dann fertig waren, wurde zuerst die türkische Bevölkerung versorgt. Und wir durften nur zugucken.

Dabei haben auch wir nichts mehr und sind auf Hilfe angewiesen. Alles, was wir hatten, haben wir in unsere Wohnung in Antakya gesteckt. Sie gehörte uns. Sie war unser Zufluchtsort, nachdem wir schon einmal alles verloren hatten. Wir haben nichts mehr und auf Hilfe von der Türkei brauchen wir nicht zu hoffen.

Die Mieten sind mindestens doppelt so hoch wie vor dem Erdbeben und Syrer*innen erhalten entweder gar keine Wohnung, weil Türk*innen bevorzugt werden oder müssen das Vierfache zahlen. Wenn vorher eine Wohnung 2000 türkische Lira gekostet hat, dann kostet die jetzt für Syrer*innen 7000 Lira. Geflüchtete aus Syrien wie wir sind sehr vulnerabel und werden an allen Ecken und Enden ausgenutzt. Wir haben alles verloren. Wir sind doch wirklich nur mit dem, was wir am Leib trugen, auf die Straße geeilt.

Was muss jetzt passieren?

Teilweise haben die registrierten Flüchtlinge beim Roten Halbmond eine monatliche Unterstützung von etwa 1.200 türkischen Lira für fünf Personen erhalten. Das sind ca. 70 US-Dollar. Das reicht bei weitem nicht mehr, deshalb muss diese Nothilfe jetzt dringend aufgestockt werden.

Der Rote Halbmond vergibt Kontokarten, darüber könnte er gezielt Hilfen schicken, sodass die Menschen eine Wohnung für mindestens 1-2 Monate anmieten können, damit sie Zeit haben sich zu sortieren. Dafür ist der Zeitraum natürlich viel zu kurz, ein Ort wie Antakya wird so schnell nicht wiederaufgebaut werden. Dafür reicht nicht mal ein Jahr. Aber irgendwo müssen wir ja anfangen.

Die Unterkünfte sind wirklich derzeit das Wichtigste. Ich bin gerade zurück in Antakya. Die Szenerie ist furchteinflößend. Die Häuser und Wohnungen, die noch stehen, platzen aus allen Nähten. Wer Glück und Verwandte in Europa hat, bekommt Geld geschickt, um die Mieten bezahlen zu können. Der Rest lebt auf der Straße oder zusammengepresst in viel zu kleinen Wohnungen. Das ist eine unerträgliche Situation.

Sind die Notunterkünfte nach wie vor für nicht türkische Staatsbürger*innen versperrt?

Manche kommen in Notunterkünften unter, aber das ist nicht selbstverständlich und oft auch ein Spießrutenlauf. Erst gestern hat mich eine Freundin kontaktiert und um Hilfe gebeten. Sie ist zu einer Gemeinschaftsunterkunft gegangen, die leer stand. Sie wurde trotzdem abgewiesen. Ihr wurde gesagt, es gäbe keinen Platz für sie. Natürlich weil sie Syrerin ist. Die türkische Regierung und die Politiker*innen nutzen die Situation aus. Sie haben schon vorher den Rassismus gegen uns befeuert.

Uns wird vorgeworfen, dass wir Schuld an Corona sind. Wir hören andauernd „die Syrer*innen haben uns nur Unglück gebracht“. Einige türkische Medien behaupten, wir seien Schuld an dem Erdbeben. Es ist absurd, aber die Stimmung war vorher schon gegen uns. Die Politiker*innen haben sie angeheizt, weil sie uns loswerden wollen. Und bald stehen die Wahlen an.


Schon lange vor den verheerenden Erdbeben sind in die Türkei geflüchtete Syrer*innen einer politisch forcierten Hasskampagne ausgesetzt. Weil die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nicht vollständig ratifiziert hat, haben sie keinen Schutzstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention und sind dem türkischen Staat nahezu schutzlos ausgeliefert. Das zeigt sich auch jetzt inmitten der Katastrophe deutlich. Lesen Sie hier, wie das Asylsystem für Syrer*innen in der Türkei aussieht und in welcher Situation sie sich bereits vor den Erdbeben befanden.