Die Grenzmauer nach Idlib ist nur in eine Richtung durchlässig: Für Zwangsabschiebungen nach Syrien.

Kurz erklärt: Das Asylsystem für Syrer*innen in der Türkei

Die Türkei schiebt syrische Schutzsuchende nach Syrien ab. Dabei dürfte das eigentlich nicht sein. Zwar genießen Syrer*innen hier keinen Schutz nach Genfer Flüchtlingskonvention, sondern nur einen „vorübergehenden Schutz“. Dieser verbietet allerdings ebenfalls Zwangsrückführungen. Wie passt das zusammen?

Die Grenzmauer nach Idlib ist nur in eine Richtung durchlässig: Für Zwangsabschiebungen nach Syrien.

Die Türkei ist das Land, das weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Derzeit leben dort mehr als vier Millionen Schutzsuchende, mehr als 3,6 Millionen davon kommen aus dem Nachbarstaat Syrien. Das türkische Gesetz beinhaltet für Flüchtlinge und Asylsuchende das Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung und Zugang zu anderen staatlichen Dienstleistungen. Seit 2016 ist es Flüchtlingen in der Türkei zudem erlaubt, einer legalen Beschäftigung nachzugehen, wenn sie eine Arbeitserlaubnis beantragen. 

Aufgrund einer Ausnahmeklausel, welche die Türkei im Rahmen ihres Beitritts zur UN-Flüchtlingskonvention aufgenommen hat, wird Syrer*innen und anderen Personen, die aus Ländern südlich und östlich der türkischen Grenzen kommen, nicht der volle Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Syrische Geflüchtete werden stattdessen auf Basis einer Verordnung zum “vorübergehenden Schutz” registriert, die nach Angaben der türkischen Behörden automatisch für alle Syrer*innen gilt, die Asyl beantragen.

Vorübergehender Schutz „garantiert“ Abschiebeverbot

Diese türkische Verordnung über den vorübergehenden Schutz gewährt syrischen Flüchtlingen zwar auch einen Zugang zu Bildung, zur Gesundheitsversorgung und einen Schutz vor Abschiebung nach Syrien, eine Arbeitserlaubnis ist aber nicht automatisch inkludiert. Weiterhin sind sie im Allgemeinen dazu verpflichtet, sich in der Provinz aufzuhalten, in der sie registriert sind. Schon um zwischen den Provinzen zu reisen, müssen die Flüchtlinge eine Genehmigung einholen. Ende 2017 und Anfang 2018 setzten Istanbul und neun Provinzen an der Grenze zu Syrien die Registrierung von neu ankommenden Asylbewerber*innen aus.

Im Februar 2022 erklärte der stellvertretende türkische Innenminister Ismail Çataklı, dass Anträge auf vorübergehenden und internationalen Schutz in 16 Provinzen nicht mehr angenommen würden. Zudem gab er bekannt, dass Anträge von ausländischen Personen auf eine Aufenthaltsgenehmigung generell in allen Stadtteilen, in denen 25 Prozent oder mehr der Bevölkerung aus Ausländer*innen bestehen, nicht mehr bearbeitet würden. Zu diesem Zeitpunkt war die Registrierung in 781 Stadtvierteln in der gesamten Türkei bereits eingestellt worden, weil die entsprechende Obergrenze an ausländischen Bewohner*innen bereits überschritten gewesen sei.

Im Juni dieses Jahres kündigte Innenminister Süleyman Soylu an, dass dieser Anteil ab dem 1. Juli auf 20 Prozent gesenkt und damit die Zahl der für die Registrierung von Ausländer*innen gesperrten Stadtteile auf 1.200 erhöht werde. Der vorübergehende Schutzstatus von Syrer*innen, die ohne Genehmigung ihre Provinz verlassen hätten, solle außerdem zukünftig aufgehoben werden. Diese Verordnung stellt viele Syrer*innen in der Türkei vor große Probleme: Viele der Geflüchteten finden in der Stadt, in der sie registriert wurden, keine Arbeit und leben in prekären Verhältnissen. Um überleben zu können, gehen sie deshalb nach Istanbul oder andere große Städte, weil die Chancen dort Arbeit zu finden, höher sind. Damit verstoßen sie jedoch gegen ihre Auflagen im Rahmen des Schutzstatus und können diesen verlieren.

Erdoğan Verfechter von Menschenrechten?

Im Vorfeld der im kommenden Frühjahr anstehenden Parlamentswahlen haben Oppositionspolitiker in ihren Reden flüchtlingsfeindliche Stimmungen geschürt und fordern die Abschiebung von Syrer*innen. Ihnen erteilte Staatspräsident Erdoğan nominell eine Absage. „Die Opposition will alle Flüchtlinge zurück in ihre Länder schicken, wenn sie die Wahl gewinnt. Aber wir werden sie nicht fortschicken, denn wir erinnern uns daran, dass unser Prophet einst selbst Flüchtling war. Wir werden die Flüchtlinge weiter beherbergen, und wir lassen uns darin nicht beirren.“

Tatsächlich sind aber Hunderte Zwangsabschiebungen nach Syrien allein in diesem Jahr dokumentiert. Der stellvertretende türkische Innenminister Ismail Catakli beziffert die Zahl der bereits zurückgeführten Syrer*innen selbst auf insgesamt über eine halbe Million. Nur: Die türkische Regierung labelt sie eben nicht als Abschiebungen, sondern verweist auf freiwillige Rückkehr. Als Beweis dienen unterschriebene Dokumente, in denen die Betroffenen die Freiwilligkeit ihrer Rückkehr bestätigen. Allerdings entstehen diese oft unter Zwang, Androhung von Haft und zum Teil massiver Misshandlung. Auch bei der geplanten Massenumsiedlung von mindestens einer weiteren mindestens Million syrischer Geflüchteter in den Nordosten Syriens spricht der türkische Machthaber Erdoğan nicht von Abschiebungen, sondern von einer Umsiedlung und freiwilliger Rückkehr nach Hause.

Win-Win für Erdoğan

Erdoğan bedient damit zum einen den immer weiterwachsenden und politisch forcierten Hass auf syrische Geflüchtete innerhalb der türkischen Gesellschaft. Zum anderen macht er sich von außerhalb nicht angreifbar. Denn die Türkei ist Vertragspartei des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) und der Europäischen Menschenrechtskonvention, die beide willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sowie unmenschliche und erniedrigende Behandlung verbieten. Wenn die Türkei eine Person festhält, um sie abzuschieben, aber keine realistische Aussicht auf eine Abschiebung besteht, unter anderem weil die Person im Zielland Schaden erleiden würde oder nicht in der Lage ist, ihre Abschiebung anzufechten, ist die Festnahme willkürlich.

Zwar sind die Zwangsabschiebungen gut belegt. Aber wo kein Kläger, da kein Richter.