Syrien und die „Responsibility to Protect“ – Hintergrund zu einem völkerrechtlichen Konzept

In Diskussion werden wir bei Adopt a Revolution oft mit der Frage konfrontiert, wie wir es mit militärischer Intervention und Waffenlieferungen halten. Die einen werfen uns vor, dass wir sie implizit fordern, die anderen werfen uns vor, dass wir sie nicht fordern. Tatsache ist: Wir fordern nichts in der Hinsicht, weil unsere Initiative sich von […]

In Diskussion werden wir bei Adopt a Revolution oft mit der Frage konfrontiert, wie wir es mit militärischer Intervention und Waffenlieferungen halten. Die einen werfen uns vor, dass wir sie implizit fordern, die anderen werfen uns vor, dass wir sie nicht fordern. Tatsache ist: Wir fordern nichts in der Hinsicht, weil unsere Initiative sich von Anfang an auf den politischen und friedlichen Protest ausgerichtet hat. Wir sind der falsche Adressat, wenn es um Weltpolitik geht. Allerdings wollen wir eine Antwort darauf geben, was denn völkerrechtlich überhaupt machbar wäre. Darum haben wir uns mit dem Konzept der Schutzverantwortung oder “Responsibility to Protect” beschäftigt. Das klare Ergebnis: Eine Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft ist in Syrien gegeben. Doch Schutzverantwortung bedeutet nicht automatisch militärisches Einschreiten. Es gäbe noch viele andere Möglichkeiten diese Verantwortung wahrzunehmen.

Seit über zwei Jahren tobt der Bürgerkrieg nun schon in Syrien. Nach neuesten Angaben der Vereinten Nationen starben bei dem Konflikt bisher rund 93.000 Menschen, wobei die Zahl wohl sehr viel höher liegen dürfte. Deswegen und aufgrund der überbordenden Brutalität beider Kriegsparteien diskutieren Politiker weltweit immer wieder über ein militärisches Einschreiten, um der Gewalt Herr zu werden. Ein Terminus, der in diesem Zusammenhang immer wieder fällt, ist “Responsibility to Protect”.

Dieses von der UN im September 2005 ins Abschlussdokument ihres Weltgipfels aufgenommene Konzept trifft einige wichtige Aussagen zu Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Souveränität, Verantwortung und Intervention, welches sich aus der Charta der Vereinten Nationen ergibt. So betont diese zwar auf der einen Seite das Prinzip der souveränen Gleichheit aller Mitgliedsstaaten sowie die Verbote von Interventionen und Gewalt. Doch auf der anderen Seite gibt es Ausnahmen: So kann der Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit beschließen. Und diese wird nach dessen Ansicht nicht mehr nur durch zwischenstaatliche Konflikte und Terrorismus bedroht, sondern zum Beispiel auch durch Bürgerkriege, humanitäre Krisen und schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts.

Um zu verhindern, dass Staaten unter Berufung auf das Souveränitätsge- sowie das Interventionsverbot ungehindert in großem Maße gegen geltende Menschenrechte und Völkerrechtsbestimmungen verstoßen können, wurde das Konzept der “Responsibility to Protect” entwickelt. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Betonung der Aufgabe eines jeden Staates, seine Bevölkerung vor schweren und flächendeckenden Verbrechen zu beschützen. Gemäß eines 2009 von UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon veröffentlichten Berichts müssen dabei präventive Maßnahmen ergriffen und wirksame Methoden zur Konfliktlösung erarbeitet werden – wenn der Wille dazu besteht, auch in Kooperation mit ausländischen Partnern. Wird dieser Verantwortung allerdings nicht nachgekommen und zeichnen sich in einem Land Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und / oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit ab, ist die internationale Gemeinschaft berechtigt einzuschreiten. Dies kann beispielsweise durch die Verabschiedung von Sanktionen oder durch Interventionen geschehen. Letztere müssen allerdings durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen genehmigt werden, was zuletzt im Jahr 2011 im Falle Libyens geschah, als die Resolutionen 1970 und 1973 ein militärisches Eingreifen in den dortigen Bürgerkrieg ermöglichten. Die im Zuge dessen unter Beteiligung der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Katars errichtete Flugverbotszone trug damals maßgeblich zum Fall Muammar al-Gaddafis bei.

Doch wie gestaltet sich die Lage in Syrien? Für eine Beurteilung der Situation muss zu allererst geklärt werden, ob einer der vier erwähnten Tatbestände zutrifft. Im Zuge der letzten Monate gerieten dabei immer wieder mögliche Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Blickpunkt. Unter “Kriegsverbrechen” sind in der Regel Verstöße gegen die Genfer Konventionen oder die Haager Landkriegsordnung zu verstehen, die während eines Kriegs begangen werden. Beispiele hierfür sind die gezielte Tötung von Zivilisten, gezielte oder planmäßige Vergewaltigungen, flächendeckende Bombardements, Angriffe auf unverteidigte Städte, Wohnungen oder Gebäude, Massentötungen, Geißelerschießungen und / oder der Einsatz biologischer oder chemischer Waffen. Aber auch das gezielte Aushungern der Zivilbevölkerung, die Behinderung humanitärer Hilfe, die Zerstörung von Wasser- und Elektrizitätswerken oder der systematische Raub von Kulturgütern fallen unter diesen Punkt. Im Gegensatz dazu sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rom-Statut von 2002 definiert. Als solche bezeichnet werden ausschließlich kriminelle Handlungen, wenn sie im Zuge eines systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung erfolgen. Hierzu zählen unter anderem Folter, Vergewaltigungen, das Verschwindenlassen von Personen, gezielte Tötungen oder sonstige unmenschliche Behandlungen.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund nun die unzähligen Meldungen über Verbrechen von Regierungs- und Rebellentruppen, erscheint die Diskussion über die Responsibility to Protect der internationalen Gemeinschaft berechtigt. Im Hinblick auf begangene Kriegsverbrechen dokumentierte unter anderem Amnesty International systematische Bombardements von Wohnvierteln seitens der Assad-Truppen und Hinrichtungen seitens oppositioneller Kämpfer. Zudem mehren sich die Berichte über den Einsatz chemischer Waffen. Was den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrifft, so gibt es Hinweise auf systematische Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung. So dokumentierte beispielsweise Human Rights Watch anhand von Aussagen ehemaliger Häftlinge und Überläufer des Regimes ein allem Anschein nach systematisches Folternetzwerk der Regierung. Demnach betreiben vor allen die Geheimdienste mindestens 27 Haftanstalten, in denen unterschiedliche Methoden zur Misshandlung der Insassen regelmäßig zum Einsatz kommen. Aus diesem Grund vermutet HRW, dass Folter ein Bestandteil der derzeitigen Regierungspolitik ist. Darüber hinaus berichtet die NGO basierend auf Opfer- und Zeugenaussagen von zahlreichen Vergewaltigungsfällen durch Regierungssoldaten und Schabiha-Milizen. Zwar wird in diesem Zusammenhang (noch) nicht von systematischen Verbrechen gesprochen, da die Taten insbesondere nicht zweifelsfrei auf die Befehle höherer Militärangehöriger zurückgeführt werden können. Dennoch geht Human Rights Watch davon aus, dass die sexuellen Übergriffe, die sich sowohl in Haftanstalten als auch bei Hausdurchsuchungen ereignet haben sollen, mindestens geduldet wurden. Außerdem seien zumindest einige der Fälle politisch motiviert gewesen.

Auch aufgrund solcher Taten kam Haid Haid, ein syrischer Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, schon vor rund einem Jahr zu dem Schluss, dass die internationale Gemeinschaft ihrer “Responsibility to Protect” nachkommen müsse. Seiner Ansicht nach ignoriere die Regierung um Präsident Assad ihre Pflicht zum Schutz der eigenen Bürger. So stellten deren Angriffe auf die Zivilbevölkerung sowie die zahlreichen Folterungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Rom-Statuts dar. Allerdings verzichtet Haid Haid dabei auf eine Forderung nach einer militärischen Intervention und befürwortet stattdessen alternative Maßnahmen, wie die Erhöhung des diplomatischen Drucks auf die internationalen Verbündeten Assads, verschärfte Sanktionen oder die Aufstockung der Anzahl internationaler Beobachter und Peacekeeper. Unterdessen kommt das Global Centre for the Responsibility to Protect zu einem ähnlichen Schluss, indem es beiden Konfliktparteien Kriegsverbrechen vorwirft. Aus diesem Grund liege es in der Verantwortung des UN-Sicherheitsrates, konkrete Maßnahmen zur Beendigung des Konfliktes in die Wege zu leiten. Dazu gehörten gezielte Sanktionen und ein umfassendes Waffenembargo. Darüber hinaus müssten der Internationale Strafgerichtshof mit dem Fall betraut und die begangenen Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgeklärt werden.

Ob es in naher Zukunft zu derartigen Maßnahmen kommt, darf bezweifelt werden. Der Grund: Die Vereinten Nationen sprechen nach wie vor nicht mit einer Stimme. Dies trat erneut beim jüngsten G8-Gipfel in Nordirland zutage, als sich die Präsidenten der Vereinigten Staaten und Russlands, Barack Obama und Wladimir Putin, nicht auf eine gemeinsame Position hinsichtlich der Zukunft von Baschar al-Assad einigen konnten. Darüber hinaus erweisen sich die Aussichten auf ein UN-basiertes Waffenembargo als schlecht. Während Russland der syrischen Regierung Waffen bereit stellt, liefern unter anderem die USA und einige arabische Staaten militärische Unterstützung an die Rebellen. Zudem wird der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag erst einmal nicht eingeschaltet. Dies wurde beispielsweise von den USA abgelehnt, die dem IStGH noch nicht einmal beigetreten sind. Derweil erscheint auch eine militärische Intervention unwahrscheinlich. Zwar gibt es immer wieder vereinzelte Forderungen danach, wie kürzlich seitens des israelischen Vize-Außenministers Zeev Elkin, doch vor allem die USA stehen einem solchen Schritt skeptisch gegenüber.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die internationale Gemeinschaft aufgrund der dokumentierten Gewalt in Syrien eine Responsibility to Protect besitzt. Dass sie diese nicht wahrnimmt, liegt vor allem daran, dass die Vereinten Nationen und insbesondere ihr wichtigstes Gremium, der Sicherheitsrat, keine gemeinsame Position zum dortigen Bürgerkrieg finden. Nur wenn sich das ändert, können gemeinsame Maßnahmen gegen die Gewalt und die Verbrechen in Syrien auf den Weg gebracht werden.

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