Tal Abyad: ein strategischer Gewinn oder ein taktischer Verlust?

Seit der Einnahme von Tal Abyad, einem syrisch-türkischen Grenzübergang, durch die YPG und verbündete FSA-Einheiten ist unter den syrischen AktivistInnen und der Zivilbevölkerung erneut eine Diskussion über die Rolle der KurdInnen in Syrien entfacht. Während die einen auf die syrische Einheit schwören, die AraberInnen und KurdInnen gleichermaßen miteinbezieht, werden auch immer wieder diejenigen Stimmen laut, die […]

Seit der Einnahme von Tal Abyad, einem syrisch-türkischen Grenzübergang, durch die YPG und verbündete FSA-Einheiten ist unter den syrischen AktivistInnen und der Zivilbevölkerung erneut eine Diskussion über die Rolle der KurdInnen in Syrien entfacht. Während die einen auf die syrische Einheit schwören, die AraberInnen und KurdInnen gleichermaßen miteinbezieht, werden auch immer wieder diejenigen Stimmen laut, die sich gegenseitig anklagen und eine immer größer werdende Kluft zwischen sich sehen. Seit der Übernahme des Grenzübergangs, der zuvor von ISIS kontrolliert wurde, konnte die YPG ebenfalls die Stadt Ain Aissa in der nördlichen syrischen Provinz Raqqa einnehmen. Mit ihrem zeitweise wachsenden Einfluss auf die Kontrolle der nördlichen Gebiete, wird die Frage nach der Rolle, die KurdInnen im syrischen Aufstand einnehmen zentral und zum Politikum. Haid Haid von der Heinrich Böll Stiftung in Beirut, Libanon, analysiert in seinem Artikel die Geschehnisse um Tal Abyad und die aufkommende Diskussion um die Stellung der YPG in Syrien.

Sollten die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) ihre Karten nicht richtig spielen, könnte der Überraschungssieg gegen ISIS in Tal Abyad zurückfeuern.

Es war ein wenig überraschend als die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und Einheiten der freien syrischen Armee letzte Woche die Stadt Tal Abyad an der türkisch-syrischen Grenze ISIS aus der Hand rissen. Die Stadt wurde innerhalb von zwei Tagen übernommen, ganz im Gegensatz zu den Kämpfen um Kobane, welche mehrere Monate anhielten. Hinzu kommt, dass Tal Abyad von weitaus größerer strategischer Relevanz ist als Kobane es jemals war. ISIS-Kämpfer schienen wenig Widerstand zu leisten, anstatt dessen haben sich sich darauf konzentriert, nach Raqqa oder in die Türkei zu gelangen.

Allerdings wird es nicht einfach werden für die YPG und ihre Verbündeten, diesen militärischen Sieg in einen politischen Erfolg umzuwandeln, da die Gefahr besteht, dass die strategischen Kosten des Siegs schlussendlich die Gewinne überwiegen könnten. Es kommt einiges darauf an, wie die YPG die Situation in Tal Abyad handhabt.

Eine Überraschung

Es ist wesentlich, die Wichtigkeit von Tal Abyad für ISIS zu verstehen um die Überraschung nachvollziehen zu können, die die Übernahme auslösen musste: die Stadt ist eine von zwei Übergängen zur Türkei, welche von ISIS kontrolliert wurden und welche lange dazu genutzt wurden, Nachschub und ausländische Kämpfer nach Raqqa zu schmuggeln. Ihr Verlust durchtrennt eine wichtige Versorgungslinie ISIS. Die Kontrolle über Grenzgänge ist schon für sich genommen erstrebenswert, denn wer auch immer diese kontrolliert, kann Zölle erheben, was bisher eine einfache Einnahmequelle für ISIS war. Zudem kommt die symbolische Bedeutung: als Teil des Regierungsbezirks um Raqqa, der Hauptstadt des selbstausgerufenen Kalifats, gibt der Verlust den Anschein als sei ISIS in der Defensive und nicht mehr dazu im Stande, sein Heimgebiet zu beschützen.

Die schnelle Eroberung Tal Abyads kann allerdings nicht allein durch einen Zusammenschluss von Luftangriffen und intelligenter militärischer Taktik erklärt werden. Luftangriffe haben sich als bisher nicht sonderlich effektiv erwiesen bei Versuchen, die Gruppe schnell zu bekämpfen. ISIS wusste schon zuvor, dass die Attacke kommen würde und hatte genug Zeit, sich darauf vorzubereiten. ISIS hatte versucht im ländlichen Aleppo voranzukommen, wo es für einen längeren Zeitraum ruhig war, weniger wichtig und schwieriger zu erobern, anstatt Kräfte zu mobilisieren um die weitaus strategischere Lage zu schützen. In einer scheinbaren Vorbereitung zum Rückzug, fuhren Konvois von Kämpfern über das Wochenende südlich nach Raqqa, kurz vor der Attacke, bei dem einige von ihnen medizinisches Equipment aus den Krankenhäusern Tal Abyads und Vorräte von Mehl bei sich hatten.

Vielleicht ist es weit hergeholt, aber man könnte spekulieren, dass der Rückzug ISIS von Tal Abyad ein trojanisches Pferd genau an die Grenze platziert hat. Was aussieht wie ein perfekter Sieg, ein Startpunkt für ein Zurückdrängen extremistischer Kräfte durch moderate, könnte am Ende doch die Gegner ISIS schwächen. Selbst wenn sie es nicht als trojanisches Pferd geplant haben, könnte sie diesen taktischen Verlust noch immer in einen strategischen Sieg umwandeln.

Diskreditierung der Kurden

Die Kämpfer der YPG sehen sich mit fundamentalen Bedrohungen seitens der Rebellen konfrontiert, welche sich gegen sie stellen könnten und erwarten könnten, dass die Unterstützung der Koalition reduziert wird. Es gab eine gestiegene Anzahl an Berichten, welche die YPG beschuldigen, arabische Gemeinden zu missachten, besonders während der Attacken auf Tal Abyad. Diese vermeintlichen Missachtungen reichen vom Konfiszieren und Plündern privaten Eigentums, Gewahrsam, Folter und Mord bis hin zu erzwungenen Verdrängungen ganzer Dörfer, besonders in den Vororten von Ain Issa im Randgebiet von Tal Abyad. Ob diese Missachtungen systematisch waren oder nicht, in jedem Fall verstärken sie die Spannungen zwischen Kurden und Arabern und erregen Besorgnis über die Absichten der YPG in Tal Abyad, wo Araber die Mehrheit darstellen.

Sherfan Darwish, ein Sprecher der Burkan al-Furat, hat derartige Anschuldigungen abgestritten und betont, dass die Dorfbewohner einiger kürzlich vereinnahmten Dörfer gebeten wurden, diese zu verlassen während nach Minen und Autobomben gesucht wurde. Diese Rechtfertigung brachte die Mehrheit der Rebellengruppen allerdings nicht davon ab, die YPG und die Democratic Union Party (PYD) der ethnischen Säuberung zu beschuldigen und damit zu drohen, auf jeden Versuch der Kurden, Syrien zu teilen, entsprechend zu reagieren.

Obwohl diese scheinbaren Missachtungen kaum dazu führen werden, dass die USA ihre Unterstützung für die YPG und seine Verbündeten einstellt, können sie doch dazu führen, dass der Druck auf die Regierung Obamas wächst und diese so vorsichtiger vorgehen wird, eventuell durch weniger Unterstützung. Die angeblichen Verletzungen könnten auch Besorgnis über das Schicksal der Allianz zwischen YPG und der freien syrischen Armee erwecken. Selbstverständlich spielen derartige Behauptungen der ISIS-Propaganda zu und werden benutzt, um in den arabischen sunnitischen Gemeinden weiterhin Kämpfer zu rekrutieren auf die gleiche Art und Weise, wie Assad ISIS dazu benutzt, die Minderheiten in Syrien auf seine Seite zu ziehen.

Interessenskonflikt

Die Ergreifung Tal Abyads hat ebenfalls die Spannungen mit der Türkei vergrößert, da die türkische Regierung die Gebiete an der türkischen Grenze, welche unter kurdischer Kontrolle sind, als Sicherheitsbedrohung sieht. Die Kämpfe gegen ISIS zusammen mit den von den USA geführten Luftangriffen hat die Zivilbevölkerung in Angst versetzt und eine humanitäre Krise ausgelöst. Die Türkei, welche bereits ca. zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, hat sich bemüht, die neuesten Flüchtlingsströme abzuhalten.

Dies hat ebenfalls die Trennung zwischen der Türkei und der Koalition vergrößert, nachdem der türkische Präsident Erdogan diese beschuldigt hat, Türken und Araber zu bombardieren und die kurdischen Gruppen nahe der Grenze zu stärken, welche die Türkei als Terroristen einstuft. Der Ko-Präsident der PYD, Salih Muslim, hat darauf geantwortet, die Türkei solle sich keine Sorgen machen, da die YPG und die anderen bewaffneten Kräfte sich von Tall Abyad zurückziehen würden sobald die Ordnung wieder hergestellt ist und diese durch eine Bildung einer zivilen Administration ersetzt würde, welche alle Parteien repräsentiert. Dieses Statement wird die Türkei wohl allerdings nicht davon abhalten, seinen Einfluss zu nutzen um diese Kooperation mit den Kurden zu stoppen oder diese von den Grenzen zurückzudrängen, was wiederum ISIS zu Gunsten käme.

Ob wir es nun also entweder mit einem taktischen Rückzug in Vorbereitung auf eine Gegenoffensive zu tun haben oder einer strategischen Entscheidung um Ressourcen zu schonen und anderen Kämpfen den Vorzug zu geben: die YPG und seine Verbündeten stehen einer kritischen Situation gegenüber und was folgen wird hängt stark davon ab, wie sie nun mit der Situation umgehen. Die folgenden vertrauendsbildenden Maßnahmen könnten die Sorgen der Türkei vermindern und helfen, die arabische Bevölkerung zu gewinnen, nicht nur in Tal Abyad sondern in ganz Syrien: stoppt die Verletzungen, welche von der PYG verübt werden und zieht die Täter zur Verantwortung, hört auf, Leute zu verfolgen unter dem Vorwand, sie würden mit ISIS zusammenarbeiten, beendet die militärische Präsenz in der Stadt, respektiert privates und öffentliches Eigentum, vereinfacht die Wiederkehr von ZivilistInnen und lasst die Einheimischen ihre eigene Stadt verwalten.

Haid Haid ist Programmmanager der Heinrich Böll Stiftung in Beirut. Er twittert unter @HaidHaid22

Die englische Originalversion ist am 23. Juni 2015 bei NOW erschienen.