Die Köpfe des Regimes in Sträflingskleidung angemalt an einer Mauer vor dem Parlament in Beirut.

Wahlen im Libanon: „Die dringende Notwendigkeit einer Veränderung ist sehr präsent!“

Am 15. Mai sollen planmäßig im krisengebeutelten Libanon die Parlamentswahlen stattfinden. Das Vertrauen in die politische Elite ist aufgrund von Korruption und Vetternwirtschaft zerstört. Die Menschen im Libanon rufen seit Jahren nach Veränderungen. Im Interview erzählt uns Aktivist und Bauer Serge Harfouch, was von den Wahlen zu erwarten ist und welche Chancen die Opposition hat.

Die Köpfe des Regimes in Sträflingskleidung angemalt an einer Mauer vor dem Parlament in Beirut.

Welches Interesse hat das Regime an den Wahlen, wurde es doch eindeutig durch die Protestbewegung deligitimiert?

Mit den Wahlen möchte das Regime vor allem gegenüber der Internationalen Gemeinschaft den Eindruck erwecken, dass es alles unter Kontrolle hat, damit es mit der Weltbank verhandeln kann. Denn das Regime ist auf deren Geld dringend angewiesen, um handlungsfähig bleiben zu können, weil es keine eigene wirtschaftliche Produktion hat. Die Revolution hat aber sehr an der Fassade des Regimes gekratzt. Jetzt versucht es mit angeblich „neuem“ Personal der Regierung einen neuen Anstrich zu geben, um dann letztendlich wie gehabt weiterzumachen.

Wer bildet denn derzeit die Opposition?

Zu den traditionellen Parteien, die sich als Opposition begreifen, zählen das überwiegend schiitische Bündnis des 8. März und die sunnitische Parteiallianz 14. März unter Führung der Hisbollah. Zudem gibt es die Kata’ib-Partei und die Forces Libanaises – rechte christliche Parteien, die mitverantwortlich für den Zerfall des Staates sind auch von der Vetternwirtschaft profitiert haben.

Es gibt quasi zwei Oppositionen, wenn man so will. Zum einen die innerhalb des Regimes, die sich aus traditionellen Parteien zusammensetzt, die zurück an die Macht wollen, um letztendlich das alte System wieder zu installieren, das eigentlich zerbrochen ist. Derzeit verkaufen sie sich aber als die Opposition und behaupten, dass sie beispielsweise gegen die in der Elite vorherrschende Korruption seien. Leider fruchtet ihre Rhetorik aber bei vielen Menschen, die sich entweder ideologisch angesprochen fühlen oder keinen anderen Weg aus der Misere sehen. Trotzdem stellen diese Parteien natürlich keine wirkliche Opposition dar, denn sie wollen letztendlich auch nur ihre Anteile an der Macht sichern.

Zum anderen gibt es eine Opposition außerhalb des Regimes, die aber keine homogene Gruppe ist, sondern vielmehr aus vielen unterschiedlichen Einzelgruppen besteht: Einige kommen aus der Oktober-Protestbewegung; einige sprechen mit dem Regime, andere nicht. Es gibt jene, die nicht miteinander oder nur mit spezifischen Gruppen reden. Sie alle können als Opposition begriffen werden, aber wir müssen auch hier sehr genau hinsehen. Denn jede Gruppe, die sich selbst den Anstrich der Opposition gibt, die Nähe zum Regime aber nicht scheut oder versucht den Platz des Regimes aus eigenem Profit versucht einzunehmen, ist letztendlich keine wahre Opposition.

Dann gibt es noch jene, die aus der Revolution hervorgegangen sind und damals auf den Straßen demonstrierten. Sie konnten sich aber aufgrund ihrer geringen Erfahrung kaum weiterentwickeln. Sie sehen politische Entwicklung nur im Zusammenspiel mit sozialer Gerechtigkeit und wollen die Verantwortlichen für den wirtschaftlichen Kollaps zur Rechenschaft ziehen. Es ist immens wichtig, dass wir die arme Bevölkerung und untere Mittelschicht vor einem weiteren wirtschaftlichen Zusammenbruch schützen.

Die Revolution-Wall am Parlament

Gibt es eine große geschlossene Oppositionsgruppe?

Wenn du mich fragst, ist MMFD – Citizens in a State eine ernstzunehmende, starke Opposition. MMFD wurde 2016 gegründet und hatte bereits damals als einzige vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch gewarnt. Sie haben Kandidat*innen im gesamten Libanon aufgestellt und der Generalsekretär Charbal Nahas ist eine angesehene Persönlichkeit. Aber das Wichtigste: MMFD hat einen Plan und eine Vision. Darüber hinaus gibt es noch sehr gute Leute, die zwar nicht direkt zu MMFD gehören, aber auf ihrer Liste stehen oder mit ihnen eine Allianz bilden. Ich sehe hier echtes Potential für die Wahlen. Ich bin dennoch etwas zurückhaltend und warte ab, wie sie sich nachher entwickeln: Wie agieren sie, wer beteiligt sich und mit wem reden sie.

Hat MMFD denn überhaupt eine reale Chance die Wahlen zu gewinnen?

Nicht direkt, aber es gibt den Plan im Falle einer Wahlniederlage eine Art Schattenparlament zu bilden, um so eine Art Gegenhegemonie zu schaffen. Dabei geht es nicht darum die Strukturen des Parlaments zu reproduzieren, sondern als Raum um einen klaren politischen Gegendiskurs zu entwickeln, über den ein politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Projekt formuliert und ein neuer Gesellschaftsvertrag ausgehandelt werden kann.

Es ist eine Art zentraler Mechanismus angedacht, um diesen Diskurs zu entfachen und möglichst viele Menschen einzubeziehen. Das Problem ist, dass MMFD sich deshalb auf die Wahl der Legislative fokussiert. Ich halte das aber für Zeitverschwendung.

Realistisch werden wir weder die Ministerien noch die Legislative gewinnen können. Daher sollten wir uns auf die Gemeinderäte konzentrieren, denn diese könnten wir wirklich gewinnen. Das weiß auch das Regime, deswegen wurden die Wahlen dazu bereits verschoben. In den Gemeinderäten eröffnen sich echte Handlungsspielräume. Innerhalb kürzester Zeit können wir den Menschen ein alternatives politisches Modell aufzeigen, das frei ist von Klientelismus und Vetternwirtschaft. Wenn wir nur zehn Gemeinderäte gewinnen würden, könnten wir schon viel verändern.

Sind die Gemeinderäte denn nicht Teil des korrupten politischen Systems?

Natürlich darf man nicht vergessen, dass auch die lokalen Strukturen korrupt sind. Gleichzeitig sind die Gemeinderäte aber viel nahbarer und transparenter und die Menschen können leichter dazu motiviert werden sich selbst einzubringen, weil sie die positiven Auswirkungen unmittelbar erleben. Kleine Projekte können bereits einen entscheidenden Unterschied machen: Durch einen Recycling-Hof könnten wir zeigen, dass es keine riesige Infrastruktur und große Firma braucht, die wie bisher das Geld an die Milizen im Staat verteilt – ohne dass überhaupt Recycling stattfindet.

Im Irak hat die Revolutionsjugend die Wahlen im Oktober 2021 abgelehnt, weil diese „nur das politische System legitimierten“. Sie wollten keine Reformen, sondern das politische System von Grund auf verändern. Im Libanon gibt es zwar auch die strukturelle Analyse der Nicht-Reformierbarkeit des Systems, aber keine Boykottaufrufe. Warum nicht?

Viele Menschen lehnen zwar die Wahl ab, es gibt aber tatsächlich keinen ideologisch organisierten, kollektiven Boykott, obwohl viele die Wahlbeteiligung aus den gleichen Gründen wie im Irak ablehnen. Ich persönlich finde diese Argumentation logisch und nachvollziehbar. Aber: Eine Boykott-Kampagne muss gut organisiert sein und bedeutet viel Arbeit. Es reicht nicht einfach zu sagen, dass du dem politischen System die Legitimität entziehst, du muss aktiv daran arbeiten, denn ansonsten legst du deine einzige Waffe nieder: Durch das Wahlsystem selbst, dem Regime die Legitimität zu entziehen. Ich bin von den Wahlen nicht überzeugt, aber sie kommen auf uns zu, also sollten wir mit unserer Stimme zeigen, wo wir stehen und was wir wollen.

Wenn wir die jetzige Situation vergleichen mit der Zeit vor der Intifada: Hast du das Gefühl, dass die Menschen heute auch eher ihre Rechte einfordern wollen? Gibt es da einen großen Unterschied zu allen vorangegangenen Wahlen?

Absolut. Die Forderungen kommen aus der gesamten Gesellschaft. Für alle ist klar, dass wir vom Regime beraubt wurden. Alle Leute, egal welcher politischen Ausrichtung, sind durch dieser jetzigen Situation zu Schaden gekommen. Die dringende Notwendigkeit einer Veränderung ist sehr präsent! Es gibt aber noch keine funktionierende Alternative. Die traditionellen Parteien investieren viel Geld in die Wahlen und haben große finanzielle Möglichkeiten, Menschen durch Vetternwirtschaft wieder an sich zu binden und sie erreichen Menschen, weil sie die emotionale Karte spielen.

Insbesondere vielleicht aufgrund der Finanzkrise…

… ist es sehr leicht Stimmen zu kaufen. Zudem ist die Regime-Propaganda sehr stark. Sie schaffen es, die Leute gegeneinander aufzuhetzen und vor einander Angst zu schüren oder die Schuld den Flüchtlingen oder “dem anderen” zuzuschieben.

Wie groß ist das Problem von Wahlfälschung im Libanon?

Bei den letzten Wahlen sind Wahlboxen verschwunden und der Strom war in den Auszählzentren stundenlang unterbrochen …

Aber generell ist das Regime nicht darauf angewiesen die Wahlen zu manipulieren, weil das Wahlsystem passgenau auf das Regime zugeschnitten ist. Die Manipulation besteht also schon im Wahlgesetz. Trotzdem hat die Lebanese Association for Democratic Elections (LADE) bei den Wahlen zu den Gemeinderäten Unstimmigkeiten dokumentiert.

Im Irak gab es die Hoffnung, dass die Bewegung nach den Wahlen wieder auf den Straßen sein wird. Wie siehst du das für den Libanon?

Die meisten haben einfach keine Kraft mehr auf die Straße zu gehen. Wer ein paar Privilegien hat, versucht irgendwie zu überleben, deshalb haben wir keine Zeit uns zu regenerieren und Kraft zu tanken. Gleichzeitig ist die wirtschaftliche Lage so verheerend, dass nichts Gutes zu erwarten ist. Daher wird es letztendlich sicher noch Proteste geben.

Wenn die Menschen hungrig sind, dann gehen sie auf die Straßen. Die Frage ist, was passiert, wenn wir die Wahl verlieren und das Regime zurückkommt. Vermutlich wird es versuchen die Proteste im Keim zu ersticken, indem es Geld aus dem Ausland erbettelt und damit die Situation der Menschen gezielt minimal verbessert. Es wäre aber ein Tropfen auf den heißen Stein, denn was wir wirklich brauchen ist eine Veränderung des Systems.

Gedenken an die Opfer der Hafen-Explosion

Was muss also geschehen?

Wir müssen über eine Art politische Ermächtigung nachdenken, die mit der Rentier-Wirtschaft bricht. Der Libanon lebt seit Jahren nur von Krediten. Wir müssen die Produktionsmittel zurückgewinnen. Es geht auch nicht nur darum, dass Menschen ihre Rechte kennen, sie müssen diese auch einfordern können. Dafür müssen wir unabhängig werden, um unsere Gesellschaft weiterzuentwickeln und voneinander zu lernen. Ein gutes Beispiel dafür ist Syrien, wo die Menschen das politische Aushungern des Regimes mit landwirtschaftlicher Produktion versucht haben zu durchbrechen.