Ein leeres Wahllokal in Baghdad. (https://twitter.com/janearraf/status/1447113237661618179/photo/1)

Wahlboykott im Irak: “Es fühlt sich an wie ein Theaterstück”

Die politische Situation des Irak bleibt instabil. Heute finden Neuwahlen statt, doch sie werden von breiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt. Viele der Oktober-Revolutionär*innen von 2019 und 2020 rufen zum Boykott auf.

Ein leeres Wahllokal in Baghdad. (https://twitter.com/janearraf/status/1447113237661618179/photo/1)

Gefeiert wird der Wahltag von den meisten Iraker*innen nicht – obwohl Parteipolitiker*innen alles daran gesetzt haben, die vorgezogene Wahl als Erfüllung der Forderungen der Tashrin-Revolution zu inszenieren. Zu groß ist die Unzufriedenheit und Resignation gegenüber der Regierung und dem Staat, dessen Korruption Menschenleben kostet.

Wir haben mit 4 Aktivist*innen gesprochen, die Teil des Oktober-Aufstands 2019 waren und sich einen Aufbruch im Land herbeisehnen. Die Erfolge des Aufstands bewerten sie unterschiedlich, doch in einem sind sie sich einig: Die Wahlen wollen sie boykottieren.

Jeder, der ein bisschen politisches und soziales Bewusstsein hat, lehnt diese Wahlen ab. Die Wahlen drücken sie uns gegen unseren Willen auf und das obwohl die Forderung nach dem Boykott inzwischen eine Forderung der Massen ist.

Iqbal (48, Englisch-Lehrerin)
Manal ist Anwältin und arbeitet derzeit als Leiterin eines Modell-Kindergartens

“Hier in Baghdad herrscht Unzufriedenheit.” erzählt der 27jährige Kunst-Student Haider. “Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Regime, dass dieses Regime nicht in der Lage ist, Krisen wie Arbeitslosigkeit zu lösen und die Lebenssituation zu verbessern, sowie eine Ablehnung von Korruption und bewaffneten Milizen.”

Die 26jährige Anwältin Manal bestätigt diesen Eindruck auch für Najaf: “Bei uns hier in Najaf hast du das Gefühl, dass die Mehrheit der Leute die Wahlen ablehnt. Es fühlt sich alles an wie ein Theaterstück. Wir sind das Publikum und haben überhaupt keinen Einfluss. Es gibt einige neue Gesichter, die zur Wahl stehen, aber ich sehe das als nichts anderes als Recycling, weil es sich um die gleichen Parteien handelt wie immer. Und die Leute hier verstehen das ganz gut.”

Mit Hinblick auf die internationale Anerkennung der Wahl führt der 27jährige IT Student Abdallah aus: “Eine der wichtigsten Fragen, die sich heutzutage stellt ist, was der Boykott bedeutet, wenn die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft die Ergebnisse anerkennen. Regime werden von westlichen Ländern schnell anerkannt, solange sie ihre Interessen durchsetzen. Deshalb stellt die internationale Gemeinschaft nie ein Maß für Legitimität dar.”

Iqbal beim Protest am 01.10.2021. Auf dem Plakat steht: “Parlamentswahlen der rückschrittlichen Patriarchen sind nichts anderes als eine Fortsetzung der Ermordung und Unterdrückung der Frau”

Erfüllen die Neuwahlen die Forderungen der Bewegung?

Manal: „Ich war Teil der 2019-Bewegung. Damals – und ich spreche dezidiert von damals – wollten wir vorgezogene Wahlen. Aber diese Wahlen, die nun im Oktober 2021 stattfinden, sind nicht wirklich vorgezogen. Wir wollten, dass sie damals während der Revolution stattfinden und nicht erst jetzt.

Interview vom November 2019: “Es geht nicht um Reformen oder Neuwahlen – es geht um unsere Rechte”

Wir wollten Parteien gründen, die von uns Tashriniyyin (von Tashrin= Oktober) geführt sind und Wandel bringen sollten. Unsere Forderungen wurden nicht umgesetzt und es gibt auch viele Tashriniyyin, die sowieso das gesamte Wahlgesetz ablehnen.

Es kommt noch ein weiterer Grund hinzu, warum diese Wahlen so nicht akzeptierbar sind: Es gibt Korruption durch die Parteien, einige Parteien haben ihre eigenen Milizen und es war eine unsere Forderungen, dass diese nicht an den Wahlen teilnehmen dürften. Persönlichkeiten, die sich als klar staatsfeindlich erwiesen haben, sollen nicht mehr antreten – und nun passiert genau das. Sie nehmen an den Wahlen teil und wir müssen ihre Bilder gerade überall sehen.“

“Unsere Hauptforderung war ein Systemwechsel. Die Krise hat einen Punkt erreicht, der nur durch eine Änderung des gesamten Regierungssystems gelöst werden kann.”

Haider

Kein Quorum für Wahlen

Manal: “Man würde annehmen, dass die Wahlen keine Legitimität hätten, denn der Anteil der Boykottierenden  ist extrem groß. Im Wahlgesetz gibt es aber kein Quorum für die Wahlbeteiligung. Das Ergebnis gilt, selbst wenn nur 1% der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben haben. Trotzdem sehen wir die Wahlen mit dieser großen Ablehnung natürlich nicht als legitim an.”

Manal auf dem Protestplatz in Najaf mit ihrem Kind im Kinderwagen bei einer Diskussion zur Rolle der Frau in den Protesten

Wahlfälschung

Schon bei den letzten Wahlen kam es zu massiven Vorwürfen der Wahlfälschung. Als der Druck so groß wurde, dass Stimmen nachgezählt werden sollten, brannte sogar ein komplettes Gebäude ab, in dem Stimmen gelagert waren. Die öffentliche Stimmung ist klar:

“Ob ich teilnehme oder nicht, ist sowieso total egal, weil die Wahlen sowieso gefälscht werden – egal ob ich teilnehme oder ich.”

Manal

Haider fügt hinzu: “Die Wahlen sind bereits entschieden aufgrund der Kontrolle der Regierungsparteien über Waffen, Geld, die Medien und staatliche Institutionen.”

Den Boykott der Wahl hält Abdullah deshalb für den besten Weg, um die Manipulationen aufzuzeigen: “Durch eine große Wahlbeteiligung wird es den politischen Kräften ermöglicht, die Ergebnisse ganz bequem zu manipulieren. Die größte Errungenschaft des vorherigen Wahlboykotts bestand darin, das Ausmaß des Wahlbetrugs und der elektronischen Manipulation bei den vorherigen Wahlen aufzudecken.”

Wie geht es weiter mit der Bewegung?

Iqbal: “Die Stimmung war damals  bei den Protesten echt unglaublich. Wir hatten wirklich Hoffnung, dass das politische System gestürzt werden könnte. Und wir waren dabei uns massenhaft zu organisieren. Das Regime hat aber die Zerstreutheit der Massen ausgenutzt und ist mit seinen Sicherheitskräften in unsere Reihen gegangen. Das Ergebnis ist jetzt das Abhalten von Wahlen. Damit versucht das Regime die Wunden zu flicken, die die Massen ihm zugefügt haben.”

Mit der Wahl versucht das Regime die Wunden zu flicken, die die Massen ihm zugefügt haben.
Iqbal

Manal ist pessimistisch: “Die generelle Stimmung ist eine Form von Depression. Das hat eine objektive und eine emotionale Ebene. Objektiv, weil wir nichts erreicht haben. Und emotional, weil es einfach deprimierend ist, dass wir nichts erreicht haben.“

Iqbal widerspricht: “Die Proteste haben echt viel erreicht, auch wenn die Grundforderung „der Sturz des politischen Systems“ nicht erreicht wurde. Aber die Proteste haben das System sehr zum Wanken und die Parteien des Regimes in Konflikte miteinander gebracht.”

Ein Systemwechsel ist zwar möglich, doch gibt es schon konkrete Perspektiven?

“Der Boykott ist eine Reaktion auf das Fehlen eines „alternativen Projekts“, das der Mauer von internationaler und regionaler Macht entgegentreten könnte. So ein alternatives Projekt muss von der Bewegung vorgeschlagen werden”

Abdullah

Haider erwartet, dass die Proteste weitergehen. “Nach den Wahlen hoffe ich auf einen Aufstand, der immer breiter wird und politische Vision entwickelt. Wir müssen dieses System ein für alle Mal abschaffen, ein neues gründen und einen säkularen Staat aufbauen, der auf Freiheit, Gleichheit und Achtung der Menschenrechte basiert.”