Motiv des Covers der Adopt-a-Revolution-Zeitung 2020

Was auf dem Spiel steht

Wir flohen aus einer Diktatur, in der wir Alles gaben für eine demokratische Revolution. Und landeten in einem demokratischen Staat – inmitten einer autoritären Revolte. Wir fragen Euch: Wisst Ihr eigentlich, was auf dem Spiel steht?

Motiv des Covers der Adopt-a-Revolution-Zeitung 2020

Aus Syrien kamen wir 2015 nach Ostdeutschland. Aus der Diktatur in die Demokratie. Hinter uns lagen Jahre der Unterdrückung, Jahre der Rebellion, Jahre der Gewalt. 

Dieser Beitrag ist der Aufmacher unserer Adopt-Zeitung 2020

Wir hatten gesehen, wie sich die Eliten bereichern und wie Freund*innen verschwanden, weil sie ihre Meinung gesagt hatten. Wir waren zwei von Millionen junger Menschen, die nicht mehr hinnehmen wollten, dass sie ausgebeutet und unterdrückt werden – ob in Tunesien oder in Syrien, im Irak oder Iran. Wir alle wollten Teil des großen Aufbruchs für Freiheit und Demokratie sein.

Es war ein unglaubliches Gefühl, als die ersten der alten Diktatoren abtreten mussten. Wir waren uns sicher, das würde uns in Syrien auch gelingen. An manchen Freitagen demonstrierten wir auf 1.000 Demonstrationen im ganzen Land. Alle Minderheiten, alle Religionen waren vertreten – wer konnte da eigentlich noch hinter Assad stehen?

Die ganze Welt feierte uns für den Mut, nach Jahrzehnten der Unterdrückung endlich aufzubegehren. Doch immer mehr Freund*innen wurden festgenommen und gefoltert, aufständische Stadtviertel beschossen, bombardiert, ausgehungert. Mit der Bewaffnung der Opposition gewannen die Dschihadisten an Stärke, sehr zum Gefallen des Regimes. Von uns, die wir nichts außer Menschenrechte und Demokratie wollten, konnten die Wenigsten bleiben.

Wir beide hatten das Glück, in einer Demokratie Zuflucht zu finden. Viele hießen uns willkommen. Aber zugleich fanden wir uns in einer Gesellschaft wieder, in der Viele Geflüchteten mit Hass begegneten. In der Straßenbahn wurden wir angesehen, als seien wir islamistische Attentäter. Nachbarn verweigerten im Hausflur den Gruß. Und die Kontrollen der Polizei galten fast immer nur uns. Ob bei der Hetzjagd in Chemnitz, den Angriffen in Heidenau, Freital oder den Pegida-Demos in Dresden – wir wussten: Wir sind gemeint.

Uns entging aber nicht, dass diese Revolte längst nicht nur Ostdeutschland betraf. Und dass sie nicht nur uns galt, sondern der Demokratie, die allen den gleichen Wert beimisst. Bei Pegida und in der AfD sprechen sie von der „Merkel-Diktatur“. Versteht Ihr eigentlich, wie sich das Leben in einer Diktatur anfühlt? Nein, tut ihr nicht. Denn sonst könnte es nicht sein, dass die Antidemokraten so wenig Gegenrede ertragen müssen.

Doch das ist gefährlich, extrem gefährlich, wie wir aus bitterer Erfahrung wissen: Als sich die ersten religiösen Fundamentalisten unserer Revolution anschlossen, hatten wir nichts dagegen.  Wir konnten ja jede Unterstützung gebrauchen. Aber es war ein tödlicher Fehler, nicht von Anfang an jedes fundamentalistische Gedankengut bekämpft zu haben. Nicht nur die Bomben des Assad-Regimes und seine Folterkeller haben unseren Traum von Demokratie zerstört. Es war auch die Ideologie der Islamisten.

Vielleicht denken Sie, das habe nichts mit Pegida oder der AfD zu tun. Hat es aber. Ausgrenzung und der Hass auf Andere ist Islamisten und Rassisten gemein. In Syrien legitimieren Dschihadisten ihren Terror mit der Brutalität des Regimes. Und die säkular-faschistische Assad-Diktatur rechtfertigt jede Gewalt gegen Zivilist*innen damit, den dschihadistischen Terror besiegen zu wollen. Beide Unterdrücker brauchen sich – wie hier in Europa jeder islamistische Anschlag der AfD hilft, und jede Ausgrenzung von Muslimen dem Fundamentalismus nutzt.

Europa ist noch weit entfernt von syrischen Verhältnissen. Aber Demagogie und Hetze nehmen zu. In Ungarn oder Polen werden demokratische Institutionen empfindlich ausgehöhlt. Die USA geben einen Eindruck davon, wie schnell demokratische Errungenschaften entgleiten können. Als Syrer*innen wissen wir, wohin das führen kann. Deswegen haben wir uns in antifaschistischen Bündnissen integriert, gegen Nazi-Demos protestiert und in Dialogrunden gegen Filterblasen angekämpft. 

Wir wissen: Mit der Toleranz für die Intoleranten fängt es an, mit der Hinnahme ihrer Gewalt geht es weiter. Und bald traut sich kaum noch einer, den Gewalttätigen zu widersprechen. Dagegen müssen wir uns jetzt gemeinsam auflehnen. Denn so weit und steinig der Weg von der Diktatur zur Demokratie ist – der Weg von der Demokratie in die Diktatur ist kurz.

Beide Autor*innen wollen anonym bleiben. Sie fürchten Verfolgung durch Faschist*innen und Repression für ihre Familien in Syrien durch die Assad-Dikatur.

H.N. stammt aus Latakia, saß im Gefängnis, weil er nicht in der Assad- Armee kämpfen wollte, und verließ deswegen Syrien. Inzwischen lebt er in Sachsen-Anhalt, wo er sich gegen den wachsenden Einfluss des Rechtspopulismus engagiert.

A.A. musste aus Damaskus fliehen, in Ostdeutschland hielt sie es wegen rassistischer Erfahrungen nicht aus. Als Tochter einer Russin und eines Syrers wurde sie früh zur Expertin für russische Propaganda.