Weit über Hunderttausend Menschen sind in Assads Folterknästen verschwunden. Angehörige erfahren meist nichts über ihren Verbleib, manche erfahren Jahre später, dass sie tot sind.

3 Gründe, warum die Syrien-Einschätzung des OVG NRW fahrlässig ist – Teil II

Das Oberverwaltungsgericht NRW zweifelt an den Einschätzungen des Auswärtigen Amts und renommierter Organisationen zur Lage in Syrien, während es dem Assad-Regime Glauben schenkt. Nicht nur deshalb ist die Darstellung der Situation in Syrien so desaströs geraten. Eine Analyse.

Weit über Hunderttausend Menschen sind in Assads Folterknästen verschwunden. Angehörige erfahren meist nichts über ihren Verbleib, manche erfahren Jahre später, dass sie tot sind.

Im ersten Teil haben wir bereits über die selektive Darstellung des Gerichts zu der Gefahrenlage für Zivilist*innen in Syrien berichtet. In diesem Part geht es um die fragwürdige Quellenlage, die dem Urteil zugrunde gelegt wird.

2.  Das OVG NRW stützt sich auf fragwürdige Quellen und Ansichten

Es gibt zahlreiche Dokumentationen, Studien und Berichte vom Auswärtigen Amt, den Vereinten Nationen, lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen sowie  übereinstimmende Aussagen von Folteropfern im Zuge von Gerichtsprozessen und Angehörigen.  Die Beweislast ist erdrückend. Wie kann es sein, dass das OVG NRW trotzdem zu der Einschätzung kommt, Syrien sei nun wieder sicher? 

In der schriftlichen Urteilsbegründung stützt sich das Gericht auf zum Teil schwer nachvollziehbare Quellen. Darunter maßgeblich auf die Protokollnotizen eines Gesprächs des Danish Immigration Service mit einer anonymen Menschenrechtsorganisation im April 2022 ohne weitere Quellenangaben. So heißt es beispielsweise:

“Demgegenüber führt der Dänische Einwanderungsdienst im Protokoll eines Treffens mit einer syrischen Menschenrechtsorganisation im April 2022 aus, trotz des Fehlens eines klaren Musters der Behandlung von Rückkehrern durch die syrische Regierung habe die syrische Menschenrechtsorganisation hinsichtlich verschiedener Gruppen von Rückkehrern unter anderem die Tendenz beobachtet, dass das Stellen eines Asylantrags im Ausland für sich genommen nicht dazu führe, Misshandlung unterworfen zu werden. […] Diese Einschätzung der syrischen Menschenrechtsorganisation erscheint dem Senat plausibel, weil realitätsnah.” (25f)

Dabei ist der Danish Immigration Service (DIS) ist eine staatliche Behörde und damit keineswegs neutral – Dänemark versucht mit aller Härte syrische Schutzsuchende loszuwerden, erlaubt Abschiebungen nach Syrien und hat Hunderten bereits den Schutzstatus entzogen. Auch hat das Gericht nicht selbst mit der Menschenrechtsorganisation gesprochen, sondern lediglich ein Protokoll vorliegen und kann nicht beurteilen, worauf konkret die Einschätzungen der NGO basieren und wie repräsentativ sie sind. Damit erfüllt das Gericht selbst keines der strengen Kriterien erfüllt, die es selbst an andere Beweismittel anlegt. 

Grundsätzlich ist die Argumentation des Gerichts mehr als fraglich. Zur Frage, ob Wehrdienstverweigerer bei ihrer Rückkehr nach Syrien verhaftet und bestraft werden, findet sich folgende Feststellung: 

„Der Senat hält es nach alldem für am wahrscheinlichsten, dass Wehr- und einberufene Reservedienstentzieher jedenfalls nicht mit einer Haftstrafe bestraft, sondern lediglich zur Ableistung ihres Wehr- oder Reservedienstes eingezogen […] werden“, da „die meisten in den vergangenen Jahren befragten Syrienexperten […] davon aus[gehen], dass Wehr- und Reservedienstentzieher nicht bestraft, sondern lediglich eingezogen und direkt zur Ableistung ihres Militärdienstes geschickt werden.“ (S. 19)

Diese Einschätzung des Gerichts überrascht, da die vorangegangene „Beweisführung“ und Auflistung der Positionen verschiedener sogenannter Expertenmeinungen die Widersprüchlichkeit der verschiedenen Einschätzungen deutlich gemacht hat, ohne diese aufzulösen. 

Besonders auffällig ist auch, dass das Gericht explizit die Frage untersucht, ob Kriegsdienstverweigerer bei ihrer Rückkehr nach Syrien inhaftiert werden und diese Frage nicht nur verneint. Sondern auch im Detail darlegt, dass diese Personen „lediglich“ (Hervorhebung durch die Autorin) eingezogen und an die Front geschickt würden, „weil es der syrischen Armee nach wie vor an Soldaten mangelt“ (S. 20). Diese Darstellung ignoriert jedoch, dass Kriegsdienstverweigerung ein fundamentales Menschenrecht darstellt und in zahlreichen Urteilen, wie beispielsweise des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, bei der Asylgewährung Berücksichtigung findet.

Noch problematischer ist, dass sich die Richter*innen auf Aussagen des Assad-Regimes stützen. Sie argumentieren:

„Das Verhältnis des syrischen Staates zu Wehr- und Reservedienstentziehern hat sich seit Ende 2018 zunehmend entspannt. Kennzeichnend hierfür ist etwa die Anweisung der Einreise- und Passabteilung des Innenministeriums der Arabischen Republik Syrien im Dezember 2018 an alle Grenzstellen, syrische Staatsbürger, deren Militärdienst überfällig ist, nicht zu inhaftieren.“ (S. 15)

Hierbei vertraut das Gericht auf die staatliche syrische Nachrichtenagentur SANA, also die Propagandamaschine des Regimes, als Quelle und akzeptiert deren Aussagen weitgehend unkritisch:

„Diese Anweisung wird nach den Erkenntnissen des Senats von den syrischen Grenzbeamten auch im Wesentlichen beachtet.“ (S. 15)

Und weiter:

„Der syrische Staat bemüht sich seit der Wiedergewinnung der Kontrolle über weite Teile seines Staatsgebiets im Jahre 2018 erkennbar allgemein um eine Rückkehr zur Normalität.“ (S. 20)

Es ist höchst bedenklich, dass ein deutsches Gericht staatliche Repression, Verfolgung, Folter, Verschwindenlassen, sowie die Einschränkung von Freiheitsrechten und Menschenrechtsverletzungen als „Normalität“ betrachtet und sich von dieser Definition des Begriffs nicht abgrenzt.

3.  Abwertung renommierter Quellen und Studien

Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte wird nicht müde  auf schwere Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen, darunter willkürliche Verhaftungen, Folter und sexualisierte Gewalt gegen Rückkehrende. Auch das Auswärtige Amt stuft die Lage vor Ort für alle Personengruppen als unsicher ein. Namhafte Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SNHR) dokumentieren diese Missstände zum Teil sehr detailliert. Dennoch werden ihre Berichte vom Gericht oft als unzuverlässig abgetan. So heißt es in dem Urteil unter anderem:

„Die vom Auswärtigen Amt angeführten Berichte von Amnesty International und Human Rights Watch aus September und Oktober 2021 beruhen auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage und sind nicht repräsentativ.“ (S. 24)

Ironischerweise werden dieselben Berichte von den Richter*innen herangezogen, um zu belegen, dass Syrien sicher sei. In der Urteilsbegründung wird angeführt, dass „im Zeitraum zwischen 2016 und dem 31. Mai 2021 […] mehr als 280.000 Personen nach Syrien zurückgekehrt” (S. 24) seien, was als Beweis dafür gewertet wird, dass Rückkehrende keiner willkürlichen Gewalt ausgesetzt seien. Für die Zahl beruft sich das Gericht auf ausgerechnet eben jenen Bericht von Amnesty International, den es zuvor als Grundlage für Lageeinschätzungen noch abgelehnt hatte. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik hätte sogar gezeigt, dass diese Zahl von Rückkehrer*innen ursprünglich von der UN stammt und heute, drei Jahre später, weiter gestiegen ist. Ebenfalls fehlt eine Kontextualisierung dieser Zahl. Denn nicht nur Human Rights Watch, sondern auch das UNHCR geben klare Gründe für die Rückkehr an, darunter fehlende Existenzmöglichkeiten, mangelhafte Gesundheitsversorgung, wirtschaftliche Not und der Wunsch, nach Hause zurückzukehren. Es ist daher verzerrend von einer freiwilligen Rückkehr zu sprechen, ohne den Zwang durch Lebensumstände und den Überlebenskampf der syrischen Geflüchteten in Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und der Türkei zu berücksichtigen. Diese Einschätzung des UNHCR wird jedoch nicht berücksichtigt. Eine bloße Zahl ist in diesem Kontext nicht aussagekräftig.

Tatsächlich zeigen Studien und Befragungen unter syrischen Rückkehrenden, dass diese sich schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und Verfolgungen durch die syrische Regierung und ihr nahestehende Milizen ausgesetzt sind. Von den Richter*innen werden diese Erfahrungsberichte jedoch als unzureichend erachtet. Auch die Ergebnisse einer Studie der Organisation „Voices for Displaced Syrians“ wurden als unbrauchbar abgetan. Nicht etwa, weil die Verfolgung an sich in Frage gestellt wurde, sondern lediglich die Verfolgungsgründe.

Fazit

Die Syrien-Einschätzung des OVG NRW zeigt gravierende Mängel in der Bewertung der aktuellen Lage. Das Gericht stützt sich auf fragwürdige Quellen und vernachlässigt die umfassende und gut dokumentierte Beweislage renommierter Organisationen und internationaler Berichte, die auf systematische Menschenrechtsverletzungen durch das Assad-Regime hinweisen. Durch die selektive Interpretation von Fakten und die Abwertung etablierter Quellen wird ein verzerrtes Bild der Situation in Syrien gezeichnet. Dies ist nicht nur irreführend, sondern auch gefährlich, da es die Risiken für Rückkehrende unterschätzt und die Realität vor Ort in der Außendarstellung verfälscht. Eine differenzierte und realitätsnahe Auseinandersetzung mit der Lage in Syrien ist dringend notwendig, um den Schutzbedarf syrischer Geflüchteter angemessen zu bewerten und menschenrechtskonforme Entscheidungen zu treffen.

Teil I verpasst? Dann lesen Sie hier den ersten Grund, warum die Syrien-Einschätzung des OVG Münster fahrlässig ist.