Buchtipp: Die unmögliche Revolution

Erstmals erscheint ein Buch des großen syrischen Intellektuellen Yassin al-Haj Saleh in englischer Sprache. Eine Lektüreempfehlung.

Wie konnte es nur so weit kommen? Diese Frage stellen sich viele, wenn sie nach Syrien blicken. Die Hälfte der Bevölkerung ist vertrieben, bis zu einer halben Million Menschen wurden getötet. Die syrische Revolution von 2011 ist für viele hierzulande nur noch eine verblasste Erinnerung. Spätestens seit 2014 konzentriert sich die mediale Berichterstattung weitgehend auf den islamistischen Terror. So gerieten auch die Gräuel des Assad-Regimes zunehmend in den Hintergrund. Heute können sich immer mehr Politiker im Westen damit anfreunden, dass die Diktatur an der Macht bleiben wird. Und die mutigen Menschen, die einst gegen diese Gewaltherrschaft aufbegehrten? Sie wurden nicht nur verschleppt, gefoltert und ermordet – zunehmend beraubt man sie auch ihrer Geschichte.

In die öffentlichen Debatte über Syrien mischen sich zunehmend Verschwörungstheorien, nicht unwensentlich wegen der massiven russischen Desinformation, die in breite Teile der Gesellschaft hierzulande vorgedrungen ist. Revisionistische Bücher, die keiner Faktenprüfung standhalten, werden von renommierten Verlagen herausgegeben und erobern die Bestsellerlisten. In Sachen Syrien wird erstaunlicher Unfug auch von respektablen Blättern veröffentlicht.

16 Jahre in den Foltergefängnissen
Umso erfreulicher ist es, dass nun der britische Verlag Hurst erstmals ein Buch des syrischen Intellektuellen Yassin al-Haj Saleh in englischer Sprache veröffentlicht hat. 16 Jahre lang saß der Autor in syrischen Foltergefängnissen. Seine Ehefrau Samira al-Khalil wurde 2013 von Islamisten verschleppt. So ist seine persönliche Geschichte auch die Geschichte der syrischen Opposition, die zwischen dem Terror des Regimes und der Radikalen aufgerieben wurde.

In „The Impossible Revolution“ seziert Saleh den Konflikt in seinem Heimatland ohne in die altbekannten aber verkürzten Erklärungsmuster westlicher „Experten“ zurückzufallen. Stattdessen dringt er in die Tiefe dieser Tragödie vor, analysiert die „Wurzeln des syrischen Faschismus“ und das Erstarken des „militanten Nihilismus“. Das Buch besteht aus älteren aufgebarbeiteten Essays, die der Autor im Untergrund in Raqqa, Damaskus und Ost-Ghouta verfasste, sowie im Istanbuler Exil.

Schon im Frühsommer 2011 warnte Saleh vor dem Rückfall der syrischen Gesellschaft in eine Art „Naturzustand“, in dem sich die Menschen in ihre als natürlich imaginierten Herkunftsgemeinschaften zurückziehen und die ursprünglichen Ziele der Revolution zunehmend in den Hintergrund geraten würden, weil Überleben zum Maßstab aller Dinge wird. Deutlich arbeitet Saleh heraus, wie die Gewalt des Assad-Regime diese Entwicklung begründete und befeuerte.  Dabei verliert Saleh nie die historischen Ursachen für die Tragödie aus den Augen, die in der Natur des Assad-Regimes begründet liegen.

Konfessionalismus als Herrschaftsinstrument
Von besonderer Stärke ist Salehs Analyse unter anderem da, wo er die Ursachen des heute grassierenden Konfessionalismus in Syrien nachzeichnet. In der öffentlichen Debatte werden die Konflikte zwischen Alawiten, Schiiten und Sunniten allzu oft auf „jahrhundertealte Differenzen“ zurückgeführt. Apologeten des Assad-Regimes wiederum verweisen darauf, dass es solche Konflikte unter dem Assad-Regime nicht gegeben hätte und nehmen dies als Ausweis seines vermeintlich antisektiererischen Charakters. Saleh geht vernichtend mit diesen verkürzten und falschen Darstellungen ins Gericht und verweist darauf, dass der Konfessionalismus im Nahen Osten heute vor allem ein künstlich aufrechterhaltenes Herrschaftsinstrument ist. Eine Analyse, die zum Glück langsam mehr Verbreitung findet und jüngst auch ausgiebig von Danny Postel und Nader Hashemi in ihrem Sammelband „Sectarianization“ dargelegt wurde.

Saleh legt dar, dass es in Syrien vielmehr einen „äußeren“ und einen „inneren Staat“ gebe. Ersteres ist das, was öffentlich sichtbar ist – bei letzterem aber liegt die eigentliche Macht. Er setzt sich auf dem Präsidenten, seinem Clan und dem engsten Machtzirkel zusammen und ist somit hochgradig konfessionalistisch geprägt. Denn die als „natürlich“ empfundene Loyalität zwischen Angehörigen von Familien sei nach dem illegitimen Putsch Hafez al-Assads 1970 der einfachste Weg gewesen, sich eine Machtbasis aufzubauen. Zugleich habe sie die Alawiten, so Saleh, von einer sozialen Kategorie, zu einer „öffentlichen politischen Kaste“ erhoben. Obwohl die große Mehrheit der Alawiten nicht von Assads Herrschaft profitierte und wie so viele andere unter ihr litt, assoziierte man sie mit dieser Herrschaft. Auch andere Gruppen zogen sich in diese „natürlichen“ Loyalitäten innerhalb von Konfessionen oder Stämmen (asabiyyah) zurück – denn das Regime regierte in den abgelegeneren Regionen vor allem über Mittelsmänner, die sich aus Autoritäten traditioneller Strukturen wie der Konfession oder dem Stamm rekrutierten. Wer in den Genuss staatlicher Dienstleistungen kommen wollte, musste sich an sie wenden und sich ihnen unterwerfen. Saleh nennt diese Strukturen treffend „neo-sultanisch“.

Was bleibt, wenn man den Syrern nicht zuhört?
Im Vorwort schreibt der britische Autor Robin Yassin-Kassab:

„If we don’t see Syrian revolutionaries, if we don’t hear their voices when they talk of their experience, their motivations and hopes, then all we are left with are (inevitably orientalist) assumptions, constraining ideologies, and pre-existent grand narratives. “

Leider wird auch hierzuland von vielen sogenannte “Experten” etwa in Talkshows genau diese Verkürzung betrieben. Es ist zu hoffen, dass Saleh eine neue, breitere Leserschaft findet.

Jan-Niklas Kniewel