Seit Mitte der Woche lassen internationale Vorwürfe gegenüber Syrien aufhorchen: Man sehe als erwiesen an, dass syrische Regierungstruppen „tödliche chemische Waffen“ im Konflikt eingesetzt hätten, z.B. am 19. März in Aleppo den Kampfstoff Sarin, so die SZ in ihrer Printausgabe vom 24. April mit Verweis auf israelische Quellen. Die USA relativierten diese Aussagen zunächst. Rebellen und Regierung warfen sich bis dato gegenseitig den Einsatz von Chemiewaffen vor. Die syrische Regierung forderte für einen Vorfall in Aleppo eigens eine UN-Untersuchung an, ließ das bereitstehende UN-Team wenig später jedoch nicht ins Land (dradio, 09.04.). Der Grund: Die Regierung weist den Rebellen die Schuld zu und wollte NUR diesen Vorfall untersuchen lassen. Es gibt landesweit jedoch weitere Verdachtsfälle – das Mandat des UN-Teams sollte daher alle bekannten Fälle untersuchen, wodurch Syrien seine Souveränität verletzt sieht.
Syrien soll im Besitz von 1.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe sein und hat nie die Chemiewaffenkonvention unterzeichnet. Außer Syrien haben nur Ägypten, Nordkorea, Somalia, Angola und Südsudan nicht unterzeichnet. Mit den Details der syrischen Chemiewaffen befasst sich die FAZ. Syrien gilt als im Besitz des weltweit größten Chemiewaffenarsenals, unabhängige Fachleute konnten die Depots nie untersuchen. In Syrien sollen 3-4 Produktionsstätten für chemische Waffen existieren. Die dort produzierten Komponenten sollen zuletzt auf das ganze Land verteilt worden sein. Der Großteil der Giftgase gilt aktuell als einsatzfähig. Für die Sicherung des syrischen Chemiewaffen-Arsenals rechnen US-Medien mit einem notwendigen Kontingent von 75.000 Soldaten, Luftangriffe gelten als zu riskant.
Seit Ende der Woche sehen auch die USA öffentlich einen Anfangsverdacht für den Einsatz chemischer Waffen „in geringen Mengen“ (dradio, 26.04.). Das Weiße Haus und der US-Verteidigungsminister vermeiden allerdings weiterhin klare Schuldzuweisungen. Barack Obama hatte den Einsatz von Chemiewaffen seit 2012 als „rote Linie“ bezeichnet. Mit dieser Formulierung schien eine Botschaft an Assad deutlich: Ohne Chemiewaffen wird es keine direkte und offene US-Intervention in Syrien geben. Gleichzeitig war damit klar, was für Assad „erlaubt“ ist: Flächenmäßige Bombardierungen und alle „konventionellen“ Arten, die zivile und militärische Opposition kleinzukriegen.
Sebastian Fischer (SPON) sieht Obama dann auch in der „Syrien-Falle“. Die Rede von der „roten Linie“ könne bei Assad bewirkt haben, dass er Stück für Stück den Einsatz von Chemiewaffen erhöht und die internationale Untätigkeit ausreizt. Obamas Syrien-Linie sei direkt auf den Irak-Krieg 2003 zurückzuführen, als mit falschen Chemiewaffenvorwürfen der Krieg begründet wurde. Zudem sei Obamas Zaudern auch der Kriegsmüdigkeit im Inneren geschuldet. Die Politik Obamas in Bezug auf Syrien sei komplett widersprüchlich und kontraproduktiv, kritisieren sowohl Analysten als auch Republikaner wie John McCain. Dieser sieht Obamas „rote Linie“ längst überschritten. Fischer liest aus den vorsichtigen Tönen Washingtons ein Motiv: abwarten und ermitteln. Die USA verlangen eine UN-Untersuchung der Vorwürfe. Auch Peter Winkler (NZZ) sieht die USA abwartend. Obwohl sie über den Einsatz der Chemiewaffen sicher seien, sollen Handlungsoptionen ausgelotet und nichts überstürzt werden. Gegenüber Russland wolle man absolut sichere Beweise anführen, um das Land zum Handeln gegen Syrien zu bewegen.
Syrien dementiert derweil den Einsatz von Chemiewaffen (ORF), laut Informationsminister verfüge die syrische Armee gar nicht über solche Waffen. Organisationen wie Al-Qaida hätten bei Aleppo Chemiewaffen eingesetzt. Die Türkei ist alarmiert, reagiert aber ebenfalls zurückhaltend. Die EU fordert eine Untersuchung. Allein Israel scheint derzeit ein militärisches Eingreifen der USA zu befürworten: „Wir hier fragen uns, ob sie [die USA] hinter der selbst gezogenen roten Linie stehen“, so der stellvertretende Außenminister. Israel schließt laut ORF eigene militärische Maßnahmen nicht aus.
Zum Spekulieren um „rote Linien“ warnt Russland energisch, Hinweise auf Chemiewaffen in Syrien nicht als Vorwand für eine militärische Intervention zu nutzen (SZ). Hinweise auf Chemiewaffeneinsätze sollten nicht unter Verschluss gehalten werden, sagte der Vize-Außenminister Bogdanow. Er verglich die Situation mit der von 2003 vor Beginn des Irak-Krieges. Die syrische Opposition verlangt vom Westen tatsächlich begrenzte militärische Unterstützung. Ghassan Hitto (Interimspremier) forderte eine Flugverbotszone, vereinzelte gezielte Luftschläge sowie eine gesicherte Passage für Hilfslieferungen. Ausländische Bodentruppen lehnte er ab. Die syrischen Rebellen vertrauen derweil nicht auf baldige ausländische Hilfe gegen die Chemiewaffen des Regimes; sie rüsten sich mit selbstgebastelten Gasmasken.
Über die „Giftgas-Spur“ in Syrien schreibt Ulrike Putz für SPON. Im Aleppiner Viertel Sheikh Maqsud wurde allem Anschein nach Nervengift eingesetzt, betroffen war u.a. eine vierköpfige Familie, bei der nur der Vater überlebte. Ein Reporter der Times spürte dem Fall nach. Die lokalen Ärzte sind sich sicher, dass Nervengift eingesetzt wurde, da die behandelten Patienten eindeutige Symptome zeigten und das Gegenmittel Atropin erfolgreich anschlug. Kurz nach dem Vorfall soll eine „amerikanische Gesundheitsorganisation“ in Syrien Haarproben genommen haben, welche vermutlich die Grundlage der US-Äußerungen bilden. Als Motiv für den Giftgasangriff gegen das v.a. von Kurden bewohnte Viertel Aleppos gilt die Allianz der dortigen Kurden mit den Rebellen. Wired berichtet von Blutproben aus Syrien, die positiv auf Sarin getestet wurden. Die Proben sollen von mehreren Stellen sorgfältig getestet worden sein. Dass z.B. Rebellen den Einsatz von Sarin selbst verübt haben, um die Schuld der Regierung zuzuschieben, wird ausgeschlossen. Die USA hielten sich aktuell mit klaren Schuldzuweisungen zurück, um eine künftige UN-Untersuchung nicht zu beeinträchtigen.
Die taz sieht beim Thema Chemiewaffen “mehr Fragen als Antworten“. Die bisher vorgelegten Indizien hätten eine dünne Beweiskraft, zudem hinterfragen einige Politiker und Militärexperten Assads Motive für den Einsatz von Chemiewaffen. Ein Reporter des Obeserver meint, Giftgas würde nicht diskret eingesetzt. Der deutsche Abgeordnete Jan van Aken (MdB der LINKEN) sieht den Einsatz kleiner Mengen von Sarin durch Assads Truppen als irrational. Obamas Ankündigung der “roten Linie” könne aber durchaus Rebellen motiviert haben, einen Chemiewaffeneinsatz vorzutäuschen oder gar auszulösen, argumentiert van Aken.
Ersichtlich wird, dass die internationalen Akteure bei der Chemiewaffen-Frage gespalten, jedoch auch aufgeschreckt sind. Eine UN-Untersuchung in Syrien wäre dringend geboten. Die Weigerung des Staates, solch eine Untersuchung zuzulassen, wirkt suspekt. Die Vorsicht der internationalen Akteure nach dem Irak-Krieg ist verständlich, andererseits wäre ein militärisches Eingreifen auf Grundlage der “Responsibility to Protect” in Syrien längst völkerrechtlich gedeckt – auch ohne den Einsatz von Chemiewaffen. Obama hat sich mit dem Gerede der “roten Linie” in eine missliche Lage gebracht, die Syrer erwarten nach zwei Jahren allerdings keine Hilfe mehr. Kafranbel hat die bizarre Situation mal wieder pointiert illustriert: Obama zeigt sich gerüstet für den “Notfall”.
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