Nach dem Chemiewaffenabkommen mit dem Assad-Regime schaut die Welt nun tatenlos zu, wie das syrische Regime die Überlebenden des Giftgas-Massakers systematisch aushungert. Ein Bericht aus Damaskus von der Menschenrechtsanwältin Razan Zeitouneh.
Warum besteht der Westen darauf, unsere Toten und Verletzten so zu behandeln, als wären sie weniger wert als westliche BürgerInnen, als würden unsere Opfer keinen Respekt oder kein Mitgefühl verdienen?
Nach dem Giftgas-Massaker in den Vororten westlich und östlich von Damaskus glaubten wir, dass die Welt doch endlich unsere Interessen und Gefühle wahrnehmen würde. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die Welt beim Anblick von hunderten toten Kindern ausschließlich den eigenen Interessen folgen würde. Der Chemiewaffenangriff war eine Zäsur, nicht nur für die syrische Revolution, sondern auch in den Köpfen der SyrerInnen.
Ich wurde selbst Zeugin des Giftgas-Angriffs auf Ost-Ghouta, einen Vorort von Damaskus. Ich sah die Leichen von Männern, Frauen und Kindern in den Straßen liegen. Ich hörte die Schreie der Mütter, als sie die Leichen ihrer Kinder unter den Toten fanden. Als Menschenrechtsaktivistin, die immer an die humanitären Prinzipien der Vereinten Nationen geglaubt hat, könnte ich stundenlang über die Erschütterung und Demütigung sprechen, die ich aufgrund der UN-Resolution zur Abrüstung der syrischen Chemiewaffen empfand. Diese Resolution impliziert, dass der Täter, Bashar al Assad, noch mindestens ein weiteres Jahr an der Macht bleibt – und das mit Duldung der internationalen Gemeinschaft! Und sie verdeutlicht, dass für uns SyrerInnen die grundlegenden Prinzipien der Menschenrechte offenbar nicht gelten. Wenn ich schon so erschüttert bin, wie mag es den einfachen BürgerInnen Syriens ergehen, die nie an das Gebot universeller Menschenrechte geglaubt haben?
Doch die Welt geht in ihrer Missachtung des syrischen Leidens sogar noch weiter: Mit der Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen zeigt der Westen, dass er seine moralisch-ethischen Verpflichtungen zugunsten der rechtlichen Verpflichtungen aufgegeben hat.
Gleichzeitig ist Assad, der wahre Kriminelle, frei – denn niemanden interessiert es.
Appelle sind nutzlos geworden. Es ist, als ob eine dicke Mauer alle Hilferufe an den „zivilisierten“ Westen zurückhalten würde. Der Westen verschließt Augen und Ohren gegenüber den Wünschen und Hoffnungen der SyrerInnen, die so viel in diese Revolution investiert haben.
Auf eine paradoxe Weise wiederholen die westlichen Staaten das irakische Szenario: Unter dem Vorwand, Syrien gerade nicht in ein Irak-Szenario abrutschen zu lassen, weigern sie sich, das Notwendige zu tun. Damit tun sie nichts anderes, als der Zerstörung des syrischen Staates und der syrischen Gesellschaft unbeteiligt zuzuschauen. Die um sich greifende Zerstörung und die zerrütteten sozialen Strukturen werden auf Jahrzehnte hinaus jeglichen Raum für Wiederaufbau und Versöhnung verschließen.
Im März 2011 gingen die SyrerInnen in friedlichen Demonstrationen auf die Straße, um ein freies demokratisches Syrien zu fordern. „Das syrische Volk ist eins!“ war die Parole der Proteste. Doch anstatt diese friedliche, revolutionäre Bewegung zu unterstützen hat der Westen geradezu auf konfessionelle Spaltungen gewartet. Obwohl wir keine Unterstützung bekommen, streiten wir weiter gegen das brutale und sektiererische Assad-Regime – genauso wie gegen dessen Versuche, ein gerechtes, einiges und freies Syrien zu verhindern.
Der Westen gibt vor, die Minderheiten in Syrien schützen zu wollen. Aber dem Regime gestattet er seit über zweieinhalb Jahren, einen konfessionellen Krieg gegen die Mehrheit der SyrerInnen zu führen.
Was will der Westen eigentlich in Syrien? Der Wunsch, die Chemiewaffen des Regimes zu zerstören und die Grenzen Israels zu sichern, ist völlig verständlich. Trotzdem sollte der Westen auch anhören, was die SyrerInnen wünschen. Diese Wünsche und Hoffnungen zu ignorieren, wird nur zu einem Scheitern aller westlichen Pläne führen. Denn keine Opposition, auch nicht diejenigen, die als Exilregierung anerkannt wurde, kann die Beschlüsse der Großmächte umsetzen. Halbgare Lösungen werden die rebellischen SyrerInnen nicht akzeptieren nach all dem, was sie bislang erlitten haben.
Für den Westen wäre es deshalb sinnvoller, damit aufzuhören, die Massaker und unsere Opfer als nebensächlich anzusehen. Er sollte endlich beginnen zuzuhören. Die SyrerInnen werden nicht vergessen, dass die internationale Gemeinschaft in der Lage war, das Regime zur Vernichtung seiner Chemiewaffen zu zwingen – aber nicht in der Lage ist, das Regime zu zwingen, die Belagerung ganzer Städte zu beenden, in denen täglich Kinder an Hunger sterben. Dabei stimmt die Formulierung „nicht in der Lage sein“ überhaupt nicht. Richtiger wäre: „er wollte nicht“ oder „er war nicht interessiert“.
In Ghouta, wo ich derzeit lebe, sind in den drei Monaten nach den Giftgas-Einsätzen mindestens 23 Kinder an Unterernährung gestorben. Der Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten ist das Ergebnis der Belagerung durch das Regime. Meine Freunde essen nur noch einmal am Tag Linsen – das einzige Lebensmittel, das in einigen der belagerten Stadtteile noch verfügbar ist. Doch für den Westen sind das „nebensächliche Details“, die ihn keinesfalls beunruhigen.
Solche Nebensächlichkeiten müssen Thema der Konferenz Genf II sein. Deren TeilnehmerInnen dürfen keine allzu rosigen Vorstellungen davon haben, was in Syrien passiert. Alle SyrerInnen wollen, dass das Morden und Sterben ein Ende hat. Dafür müssen die Gründe behoben werden: Das brutale Assad-Regime muss auf die Macht verzichten – und die strategischen Interessen des Westens dürfen nicht über seinen menschlich-humanitären Werten stehen.
Die Menschenrechtsanwältin Razan Zeitouneh ist Sprecherin des Netzwerks der Lokalen Koordinationskomitees in Syrien (LCC), einer Partnerorganisation von Adopt a Revolution. Bis zu ihrer Verschleppung am 10. Dezember 2013 mutmaßlich durch bewaffnete Islamisten lebte sie in Ost-Ghouta, den Stadtteilen von Damaskus, die im August mit Chemiewaffen angegriffen wurden. Die Langform dieses Textes erschien bei Damascus Bureau.
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Dieser Beitrag erschien im Dezember 2013 auch in der dritten Ausgabe der Adopt a Revolution-Zeitung. Hier können Sie Exemplare der Zeitung bestellen. Aus dem Englischen: Barbara Blaudzun