Sie schaffen es, zu überleben, indem sie eine Mahlzeit am Tag teilen oder an manchen Tagen auch ganz auslassen. Nachts wachen seine Kinder weinend auf und fragen nach Essen. Kleine Kinder wissen nicht, was Belagerung bedeutet.
Ost-Ghouta, ein Vorort von Damaskus, wird fast seit Beginn des Krieges in Syrien durchgehend belagert. Im Oktober 2012 stellte das Regime dem Viertel den Strom ab. Seit Februar 2013 fehlen auch die Lebensmittel. „Im September 2013 hat das Regime aufgehört, Menschen rauszulassen, sogar Kranke, Alte und Kinder“, berichtet Abu Toni, ein lokaler Fotograf.
Abu Toni hat in Ost-Ghouta u.a. den Angriff mit Chemiewaffen vom August 2013 überlebt, musste ohne Essen ausharren, wurde von einem Scharfschützen angeschossen; er brach sich ein Bein, sodass er auf Krücken Fotos von der Front schoss. Als er Drohungen von ISIS erhielt, entschloss er sich schließlich dazu, Ghouta zu verlassen.
Einmal ist es Abu Toni gelungen, aus der Belagerung von Ghouta auszubrechen. Der größte Schock bestand für ihn darin, funktionierenden Strom und Kühltruhen voller Brot zu sehen. Er hatte sich bereits so sehr daran gewöhnt, ohne stabile Stromversorgung und Nahrung zu leben.
In diesem Bericht beschreibt Abu Toni die Bedingungen, unter denen die Bewohner von Ost-Ghouta leben müssen:
Das Viertel ist unter Warlords aufgeteilt: Zum einen das Regime, zum anderen eine wachsende Präsenz von Gruppen wie Jabhat Al-Nusra (JAN) und ISIS. Und dann gibt es da noch die Zivilisten, die in der Mitte festsitzen. Die Warlords kontrollieren an Checkpoints, was aus Ghouta heraus- und nach Ghouta hineinkommt – einschließlich Lebensmitteln. Die Warlords haben das letzte Wort im Viertel. Allgemein all jene, die über Waffen und Finanzmittel verfügen.
Die meisten Kinder hier haben keine Väter mehr – sie sind entweder in den Gefängnissen des Regimes verschwunden, tot oder kämpfen an der Front. Für Kinder ist es einfacher, um Nahrung zu betteln als für ihre Mütter. Sie laufen 10 bis 15 Kilometer, um Wasser und Lebensmittel zu holen – ohne Rücksicht auf das Risiko getötet, gekidnappt oder sexuell missbraucht zu werden.
Einige trauen sich sogar herüber ins Wadi al-Deif Camp, welches vom Regime kontrolliert wird, um Nahrung zurück nach Ost-Ghouta zu schmuggeln und es dort zu einem besseren Preis zu verkaufen. Zum Beispiel können kleine Kinder im Camp ein Kilo Reis für einen Dollar erstehen und es dann in Ost-Ghouta für fünf Dollar verkaufen.
Die Preise für Lebensmittel sind wegen der Belagerung in die Höhe geschossen. Viele Menschen können sich daher Lebensmittel nicht mehr leisten. Ich traf einen Mann, Vater von sechs Töchtern und einem Sohn; alle jünger als 13 Jahre. Sie schaffen es, zu überleben, indem sie eine Mahlzeit am Tag teilen oder an manchen Tagen auch ganz auslassen. Nachts wachen seine Kinder weinend auf und fragen nach Essen. Kleine Kinder wissen nicht, was eine Belagerung ist. Sie wissen nur, dass sie Hunger haben.
Viele Bewohner sind aus Not dazu übergegangen, Hühnerfutter zu essen. Die Unterernährung und der Mangel an Lebensmitteln wie Fleisch und Eiern führen dazu, dass viele Kinder und Alte nun unter Durchfall, Typhus und Zahnproblemen leiden. Sie können jedoch nicht behandelt werden, da es kaum Zugang zu ärztlicher Versorgung oder Medikamenten gibt. Einer schwangeren Bekannten [Abu Tonis] musste vor der Entbindung ihres Kindes Metall aus ihrem Bein entfernt werden. Da es keine Schmerzmittel gab, musste sie – um die Schmerzen zu bewältigen – festgebunden werden, als die Metallteile herausgeschnitten wurden.
Wir verfügen nur über ein oder zwei Ärzte pro Krankenhaus, alle anderen dort sind Freiwillige. Anstatt an der Front zu kämpfen, haben sich viele Menschen dazu entschieden, in der Krankenversorgung oder als Lehrer zu arbeiten. Doch niemand schützt sie vor Entführungen oder Bombardements, sodass sie gezwungen sind, improvisierte Schulen in Kellern oder Moscheen einzurichten.
Ab 2013 schlossen vermehrt die medizinischen Versorgungspunkte, da wir keinen Treibstoff für die Generatoren hatten. Ein Liter Treibstoff kostet jetzt 21 US-Dollar. Es kann also gut und gerne 42 Dollar kosten, mit dem Motorrad aus Ghouta heraus- und wieder zurückzukommen. Viele Leute laufen daher oder fahren mit dem Rad. Während ein Fahrrad im [vom Regime kontrollierten] Damaskus nur 5 Dollar kostet, muss man in Ghouta heute 105 Dollar dafür zahlen. Definitiv ist es körperlich sehr anstrengend, zu laufen oder Fahrrad zu fahren, wenn du nichts gegessen hast.
Doch die Menschen sind unter solchen Umständen sehr erfinderisch. Als z.B. ein Lagerhaus voller Alkohol gefunden wurde, begannen die Leute, ihre Motorräder mit Schnaps zu betanken. Wir scherzten, dass wir alle noch von den Abgasen betrunken würden.
Heutzutage kann man an den Checkpoints Geld bezahlen, um dauerhaft aus Ghouta herauszukommen – pro Person kann das von 300 bis zu 1000 Dollar kosten. Doch die meisten Leute hier sind Bauern, deren Felder Teil der Front geworden sind. Sie sind zu arm, um dem Elend zu entkommen.
Adopt a Revolution unterstützt seit Ende 2011 die Arbeit der jungen syrischen Zivilgesellschaft und arbeitet eng mit Gruppen in Ghouta zusammen – darunter auch Medienkomitees. Helfen Sie mit, unterstützen Sie die Arbeit der syrischen Zivilgesellschaft!
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Dieser Bericht ist eine Übersetzung aus dem Englischen durch Adopt a Revolution. Der Beitrag “Through the Camera’s Lens, A Snapshot of Life in Ghouta” erschien im englischen Original am 29. Januar 2015 bei Syria Deeply. Die deutsche Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch Syria Deeply.