Das Leben unter Assads Belagerung

Selbst nach fünf Jahren der Belagerung und Bombardierung hat die Vertrautheit des Todes die Menschen in Ost-Ghouta nicht abgestumpft. Yassin Al-Haj Saleh über das Leben und Sterben in dem belagerten Vorort von Damaskus.

Am Dienstag, den 6. Februar 2018, kamen bei Luftangriffen syrischer und russischer Kräfte in der von Aufständischen gehaltenen Enklave Ost-Ghouta 78 Menschen ums Leben. Die Vereinten Nationen fordern seit Monaten einen landesweiten Waffenstillstand für Syrien, damit die Menschen mit humanitären Hilfsgütern versorgt und schwer kranke sowie verwundete Personen außer Landes gebracht werden können.

Die Belagerung von Ost-Ghouta ist eine der längsten und verheerendsten Belagerungen in der jüngeren Kriegsgeschichte, und sie zieht sich bereits etwa ein Jahr länger hin, als die vier Jahre andauernde Belagerung von Sarajewo. Ghouta liegt östlich von Damaskus, und die Gegend ist geprägt von kleinen Städten und fruchtbarem Ackerland.

Das Regime von Baschar al-Assad verhindert, dass Menschen Ost-Ghouta verlassen und Menschen aus anderen Teilen des Landes ihre dort lebenden Verwandten besuchen können. So berichtet es Osama Nassar, ein Aktivist und Journalist, der seit 2013 im Distrikt Duma lebt.

Seit 2013 hat das Regime wieder die militärische Oberhand

Die Menschen in Ost-Ghouta schlossen sich bereits im März 2011, also ganz zu Beginn des Volksaufstandes in Syrien, der Protestwelle gegen Assad an und in der Folge töteten Regierungskräfte dort viele junge Männer. Ich hielt mich wenige Wochen nach diesen Demonstrationen dort auf und nahm an der Beerdigung von acht junge Männern teil, die das Regime ermordet hatte.

Durch diese Morde nahm der Volksaufstand im Herbst 2011 militärische Formen an. Im Juli 2012 begann das Regime, Ballungsräume mit Fassbomben anzugreifen. Das bedeutete das Ende jeder Art friedlichen Widerstands.

Im Oktober und November 2012 gelang es den Aufständischen, die Regierungstruppen aus Ost-Ghouta zu vertreiben. Anfang 2013 bekam das Regime mit Unterstützung von Hisbollah und dem Iran allerdings wieder die militärische Oberhand und schloss einen Belagerungsring um Ost-Ghouta.

Ich ging im April 2013 in den Distrikt Duma und schloss mich dort einer Zivilverteidigungseinheit an, die später unter dem Namen „Weißhelme“ bekannt wurde. Tagaus, tagein wurde die Gegend von der Luftwaffe des Regimes bombardiert, und jeden Tag sah ich die Toten, die zu unserer Zivilverteidigungseinheit gebracht wurden, damit man sie dort erfasste. Manchmal waren es neun Leichen pro Tag, manchmal ware es 26.

Obgleich es aber immer schwieriger wurde über die Runden zu kommen, hatten die Menschen noch Hoffnung. Am 21. August 2013 griff das Assad-Regime Ost-Ghouta mit Sarin-Gas an; 1.400 Zivilisten starben, darunter 426 Kinder.

Der militärische Widerstand ist zersplittert

Ein Abkommen zwischen den USA und Russland zwang das Assad-Regime schließlich, seine chemischen Kampfstoffe an UNO-Inspektor/innen auszuhändigen. Präsident Barack Obama entschied sich jedoch dagegen, Syrien zur Flugverbotszone zu erklären. Für Assad bedeutete dies, dass er sämtliche anderen Kriegsmittel, darunter Fassbomben und das Aushungern, einsetzen konnte, um den Aufstand niederzuschlagen.

Im Oktober 2013, einen Monat nach der Übereinkunft zu den chemischen Kampfstoffen, verschärften die Truppen Assads die Belagerung von Ost-Ghouta. Nun konnten auch jene Menschen, die ärztliche Hilfe benötigten, mit keiner Unterstützung von außen mehr rechnen. Durch die willkürlichen Bombardierungen, zu denen es tagtäglich kam, wurde das Leben äußerst unsicher, und die Menschen waren auch kaum noch in der Lage, die Leichen der Getöteten aus den zerstörten Häusern zu bergen.

Etwa zu dieser Zeit wurde die militante salafistische Gruppe Jaish al-Islam zur stärksten Kraft in Duma und errichtete eine Willkürherrschaft. Menschen, die sich dem Diktat dieser Gruppe nicht beugten, wurden verhaftet, entführt und ermordet. Zu den weiteren Gruppen, die im belagerten Gebiet aktiv waren, gehörten Faylaq al-Rahman, ein Ableger der Freien Syrischen Armee, und Hayyat Tahrir al-Sham, deren Angehörige überwiegend dem syrischen Arm von al-Qaida zuzurechnen sind. Daneben gibt es zahlreiche weitere Gruppen und Trüppchen, welche kleinere Gebiete kontrollieren und verteidigen.

Das Verhältnis der Zivilist/innen zu den rebellierenden Gruppen ist zwiespältig. Einerseits unterstützen sie diese, da sie gegen das Assad-Regime kämpfen; andererseits bemängeln sie die Zersplitterung, durch welche es unmöglich ist, geschlossen gegen das Regime vorzugehen. Zudem ärgert und beschwert sich die Zivilbevölkerung über die Art und Weise, in der die Rebellengruppen versuchen, den Alltag der Menschen zu bestimmen, sei es, indem sie hart durchgreifen, sei es, indem sie jemanden verhaften.

„Verhungere oder ergib dich“

Als ich mich im Sommer 2013 auf den Weg von Ost-Ghouta nach Rakka machte, waren die Lebenshaltungskosten kriegsbedingt bereits erheblich gestiegen. Strom lieferte uns ein Generator – und auch das nur für vier Stunden pro Tag.

Einige Monate zuvor war meine Frau, Samira al-Khalil, zu mir gestoßen. Es fehlte uns an Nahrung, und beide nahmen wir ab. Wir lachten noch darüber, dass unsere Bekannte Razan Zeitouna, eine Anwältin und Schriftstellerin, welche die Greuel dokumentierte, nicht abnehmen konnte, war sie doch bereits schlank wie eine Gerte. Der Schlachtruf des Regimes war „Aljoo’ or Arrukoo’“, das heißt, „verhungere oder ergib dich“.

Samira, die unter Hafiz al-Assad wegen politischer Betätigung vier Jahre im Gefängnis gesessen hatte, schrieb damals in ihr Tagebuch: „Verglichen mit der Belagerung war das Gefängnis ein Witz, denn unter der Belagerung haben alle zu leiden – die Kinder, die Alten.“ Und weiter: „Durch die Belagerung fehlt es uns an allem! Wir haben keine Medikamente, kein Brot, kein Wasser, keinen Strom – nichts. Aber falsch – etwas habe ich vergessen: den Tod gibt es im Überfluss, überall, in jeder Familie.“

Im Herbst 2013 wurden neben Ost-Ghouta auch weitere von Aufständischen gehaltene Enklaven nahe Damaskus belagert, bombardiert und ausgehungert, nämlich Daraja, Muaddamija, Nadaja und al-Zabadani.

Brot aus Tierfutter, Schmuggel und Handel mit dem Regime sind Überlebensstrategien

In Ost-Ghouta war der Wille zum Widerstand stark, und man ging neue Wege, um zu überleben. Auf dem Land wurden weiterhin Lebensmittel angebaut, was teilweise half, den Hunger abzuwenden. Auch fand man Wege, die Belagerung zu umgehen, nämlich indem man ein ganzes Netz von unterirdischen Gängen grub, von denen einige bis nach Damaskus reichten, und die dazu benutzt wurden, dringend benötigte Güter zu einzuschleusen.

Durch zahlreiche Gespräche mit Freunden und Bekannten, die immer noch in Ost-Ghouta leben, habe ich eine recht genaue Vorstellung davon, wie es ihnen gelungen ist zu überleben. Die Menschen recyclen Plastikmüll und gewinnen daraus Brennstoff. Mit diesem Brennstoff werden die Generatoren betrieben, die sie durch die unterirdischen Gänge herangebracht haben. Der so erzeugte Strom ist unentbehrlich, um via Satellit online zu gehen und mit der Außenwelt Verbindung aufzunehmen. Tierfutter wird zu Mehl zermahlen, mit dem man dann Brot backt, und geröstete Eicheln dienen als Kaffeeersatz. Auch auf Wildkräuter, die in Friedenszeiten nie genutzt wurden, greift man zurück und nutzt sie als Gemüse, um den Speiseplan zu erweitern. Die Keller von Krankenhäusern und Schulen wurden in Lagerräume umgewandelt, und man versucht auf diesem Wege, den Fassbomben zu entgehen.

Besonders widerwärtig ist, dass das Regime versucht, aus dem Handel mit der eingeschlossenen Bevölkerung Profit zu schlagen. Nach Angaben mehrerer Händler in Ost-Ghouta, erhielt Muhyi Eddin Manfoush, ein Geschäftsmann mit Verbindungen zur Republikanischen Garde Syriens, die von Assads Bruder Mahir al-Assad befehligt wird, vom Regime die Genehmigung, den Menschen in den belagerten Gebieten u.a. Mehl, Konserven, Butter, Öl, Tee und Zucker zu verkaufen.

Diese Sondergenehmigung sah vor, dass Manfoush den eingeschlossenen, verarmten Menschen einen höheren Preis in Rechnung stellte als üblich. Verschiedenen Einwohner/innen zufolge wurde für ein Kilo Mehl, Zucker und Reis ein Aufschlag von 2.000 syrischen Pfund (ca. 4 US-Dollar) verlangt. Bei Kleidung, Schuhen und Reinigungsmaterial betrug der Aufschlag 3.000 syrische Pfund (ca. 6 US-Dollar). Medikamente, medizinisches Gerät, Elektronik oder Baumaterial durfte in die belagerten Gebiete hingegen nicht geliefert werden. Den Menschen in Ost-Ghouta blieb nur wenig, und sie hatten kaum die Mittel, um etwas zu kaufen. Finanzielle Unterstützung erhielten sie nur von einigen Nichtregierungsorganisationen sowie religiösen Netzwerken.

Die Zerstörung der Schmuggeltunnel verschärft die humanitäre Lage

Bis 2017, als die Belagerung bereits in ihr viertes Jahr ging, war es Assads Kräften gelungen, viele der Rebellengebiete zu erobern. Im März dieses Jahres nahmen die Regierungstruppen Barzeh und Kabun ein, zwei Stadtteile von Damaskus, die für die Versorgung der Rebellengebiete entscheidend waren. Dort endeten die unterirdischen Gänge, welche die Aufständischen in Ost-Ghouta gegraben hatten. Assads Kräfte konnten das Gangsystem zerstören und Ost-Ghouta von der Versorgung abschneiden.

Nur wenige Tage nach dem Fall von Barzeh und Kabun stieg der Preis für Diesel von 63 Cent per Liter auf etwa 10 US-Dollar. Wenige Tage vor Beginn der Getreideernte und der Aussaat des Gemüses bedeutete dies, dass den Bauern der Treibstoff für ihre Generatoren, Wasserpumpen und Traktoren fehlte, und sie ihr Land weder bewässern, noch das Getreide einfahren konnten.

Da landwirtschaftliche Erzeugnisse weder geerntet noch angebaut werden konnten, die unterirdischen Gänge zerstört waren und der Belagerungszustand weiter anhielt, stiegen die Lebenshaltungskosten immer weiter. Einwohner und Aktivisten aus Ost-Ghouta berichteten, dass im Oktober 2017 ein Kilo Zucker 2.400 syrische Pfund kostete (ca. 5 US-Dollar), ein Kilo Reis 2.900 syrische Pfund (ca. 5,5 US-Dollar), ein Kilo Linsen kostete 2.000 und ein Liter Bratöl 3.000 syrische Pfund (ca. 4 bzw. 6 US-Dollar). Die eingeschlossenen Menschen konnten diese Preise nicht bezahlen. Zuerst hungerten und starben die Kinder, und damals begann man aus Ost-Ghouta auch die Aufnahmen von ausgemergelten und unterernährten Kindern zu sehen.

Ende November lieferte der Geschäftsmann mit Verbindungen zum Regime neue Ware – zu den üblichen Wucherpreisen. Wenige konnten sich den Einkauf leisten und, nach Angaben von Aous al-Mubarak, einem Zahnarzt in Ost-Ghouta, war die Lieferung nach zwei Wochen auch bereits aufgebraucht. Ihm zufolge waren 400 Kinder stark unterernährt, eine Zahl die seither weiter gestiegen ist.

Der Tod wird zum Vertrauten

Assad hat ein System des politischen Nihilismus zur Vollendung gebracht, ein System, welches all jene vernichtet, die sich gegen das Regime stellen und all jene, die sich ihm fügen und sich unterwerfen, versklavt. Selbst nach fünf Jahren der Belagerung und Bombardierung halten die Menschen in Ost-Ghouta an der Menschenwürde fest, trauern um jeden Toten, und die Vertrautheit des Todes hat sie nicht abgestumpft.

Bara’a, ein Mädchen von 15 Jahren und eine Freundin von Osama Nassars Tochter, starb im Januar 2018, als Flugzeuge des Regimes Duma bombardierten. Nassar hatte geglaubt, nach fünf Jahren der Belagerung könne der Tod ihn nicht mehr schrecken, aber er musste eingestehen: „Ein jedes Mal, wenn ich an ihre Mutter denken, schüttelt es mich.“

Seit Ende 2011 unterstützt Adopt a Revolution Projekte der jungen syrischen Zivilgesellschaft – darunter derzeit sieben Projekte im belagerten Ost-Ghouta: Von der Freien Schule für 1.800 Kinder über ein oppositionelles Tonstudio bis zur Rechtsberatung für Frauen. Helfen Sie mit, unterstützen Sie diese Projekte mit Ihrer Spende!

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Dieser Text erschien zunächst in der New York Times auf englisch und wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung zuerst auf deutsch veröffentlicht.