Während dem Folterprozess in Koblenz machen Aktivist*innen der #SyriaNotSafe-Kampagne darauf aufmerksam, dass die Folter in Syrien andauert und niemand dorthin abgeschoben werden darf.
Während dem Folterprozess in Koblenz machen Aktivist*innen der #SyriaNotSafe-Kampagne darauf aufmerksam, dass die Folter in Syrien andauert und niemand dorthin abgeschoben werden darf.

Der folternde Arzt: Neues Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien

In Frankfurt am Main beginnt das Verfahren gegen den mutmaßlichen „Folterarzt“ Alaa M. Doch wie weit kann das Streben nach Recht und Gerechtigkeit ohne nachhaltige politische Lösungen für den Syrien-Konflikt gehen?

Während dem Folterprozess in Koblenz machen Aktivist*innen der #SyriaNotSafe-Kampagne darauf aufmerksam, dass die Folter in Syrien andauert und niemand dorthin abgeschoben werden darf.
Während dem Folterprozess in Koblenz machen Aktivist*innen der #SyriaNotSafe-Kampagne darauf aufmerksam, dass die Folter in Syrien andauert und niemand dorthin abgeschoben werden darf.

Mit großer Symbolwirkung, besonders für Opfer der Repression durch das syrische Assad-Regime, wurde Anfang des Jahres der in Deutschland lebende Syrer Anwar R. vom OLG Koblenz zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass R. als Vernehmungschef des Geheimdienstes für Verbrechen gegen die Menschlichkeit in tausenden Fällen verantwortlich war. Der Prozess setzte ein eindrucksvolles Zeichen dafür, dass Täter*innen sich den juristischen Konsequenzen ihrer Rolle während der Revolution in Syrien und während des anschließenden Bürgerkrieges nicht durch das Verlassen des Landes entziehen können. Juristische Basis ist das Weltrechtsprinzip aus dem Völkerstrafgesetzbuch, das die Anwendung deutschen Rechts in Fällen von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gebietet, auch wenn die entsprechenden Taten nicht durch deutsche Staatsbürger*innen und nicht in Deutschland verübt wurden. Vor diesem Hintergrund sieht sich seit dem 19. Januar 2022 nun auch Alaa M. der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, der Folter mit grausamsten Methoden, des Mordes und der schweren und gefährlichen Körperverletzung. Doch im Gegensatz zu Anwar R., der vor allem als Verantwortlicher verurteilt wurde, war Alaa M. angeblich unmittelbarer Täter.

Aussage gegen Aussage

Das sagen Syrer*innen zum weltweit ersten Urteil wegen Staatsfolter in Syrien.

Der 36-jährige Familienvater war in Syrien ziviler Assistenzarzt für den syrischen Militärgeheimdienst. Als solcher war er zumindest eingebunden in die „Gewalt- und Tötungsmaschinerie“ (Spiegel) des Assad-Regimes während der Revolutionsjahre 2011 und 2012. Inwieweit er persönlich involviert war, bleibt vor Gericht zu klären. Zunächst einmal steht sein Wort gegen das der Klägerschaft. Zeug*innen berichten, dass er im Militärkrankenhaus Nr. 608 und der berüchtigten Militärgeheimdienststelle 261 in Homs Inhaftierte auf brutalste Weise misshandelt habe.

Alaa M. streitet indessen während der ersten Prozesstage alle konkreten Vorwürfe ab: „Ich habe nichts gemacht“, sagt er wortwörtlich, und erklärt, für den Geheimdienst zwar Gefangene unter Missachtung ihrer Patient*innenrechte be- aber eben nicht misshandelt zu haben. Er habe sich „mit dem Regime arrangiert“ ohne dieses explizit zu befürworten und betont mehrfach, er sei im Grunde apolitisch und auch nicht religiös. Seine Verteidigung scheint somit im Allgemeinen darauf abzuzielen, ihn als unwillentlichen, vielleicht sogar widerwilligen Ausführenden zu stilisieren: „Ich habe nicht mit Absicht oder Liebe die Stelle im Militärkrankenhaus angenommen“, zitiert ihn der Spiegel. Damit widerspricht er Zeug*innenaussagen, die unter anderem berichten, wie Alaa M. stolz verkündet habe, das gezielte Verbrennen der Genitalien (selbst minderjähriger Gefangener) als Foltermethode sei seine ganz eigene Erfindung.

Privileg und Systemtreue

Unklar ist bisher außerdem, wie er sich persönlich gegenüber der Regierung und der systematischen Repression, auch im Rahmen des Gesundheitssystems, verhielt. Es ist wichtig, keinen Generalverdacht entstehen zu lassen – und doch geht eine privilegierte gesellschaftliche Stellung tendenziell in Syrien mit einer größeren politischen Nähe zum Assad-Regime einher, da dieses sich als Garant der Sicherheit und Stabilität stilisiert. Alaa M. entstammt einer gut situierten Familie, besuchte eine kirchliche Privatschule, lernte Englisch in Manchester. Und bezeichnet, laut Medienberichten, die Aufständischen immer noch als „Verräter“ und „Terroristen“. Es zeugt auch von einer privilegierten Position, dass es dem Angeklagten möglich war, dann mit Frau und Kindern 2015 nach Deutschland zu ziehen – per Flugzeug.

In der Folge schloss Alaa M. eine Fortbildung ab, um weiter praktizieren zu dürfen und arbeitete dann als Orthopäde in Hessisch Lichtenau und einer Reha-Klinik in Bad Wildungen. Zufällig erfuhr ich von meinen Eltern, die unweit von Bad Wildungen leben, dass nach Alaa M.‘s Verhaftung im Juni 2020 Getuschel die Runde machte: Entfernte Bekannte berichteten mit morbide-voyeuristischer Faszination von eigentlich bedeutungslosen Begegnungen mit dem Arzt, die plötzlich einen Anstrich von Horror erhalten zu haben schienen. In diesem Widerspruch äußert sich auch die scheinbare Unvereinbarkeit zweier fundamental andersartiger Lebensrealitäten: Auf der einen Seite die Sicherheit und Beschaulichkeit des Hessischen Kurortes, auf der anderen die obszöne Unsicherheit des Militärgefängnisses in Homs. Es ist das Überbrücken dieser Kluft, die dem Weltrechtsprinzip mit seinem universalistischen Anspruch seine Symbolwirkung verleiht.

Politische Antworten bleiben bisher aus

Die Human Rights Guardians versuchen Fälle von “Verschwindenlassen” gerichtsfest zu dokumentieren.

Doch diese Brücke gilt es nicht nur juristisch zu schlagen, wie vor den Gerichten in Koblenz und Frankfurt – vielmehr müssen diese Verfahren ein Ansporn sein, auch politisch zu einer Lösung des Syrien-Konflikts beizutragen. Die Verbrechen seit Beginn des Aufstands gegen das Assad-Regime sind so gut dokumentiert, wie in keinem anderen Konflikt zuvor. So geht das Syrian Network for Human Rights etwa davon aus, dass seit 2011 über 100.000 Menschen in Gefängnissen (und Krankenhäusern) „verschwunden“ sind – aber eine umfassende juristische Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien, etwa durch eine internationale Gerichtsbarkeit, scheint deutlich weiter entfernt als eine Normalisierung der Herrschaft Assads.

Während sich also die europäische Außenpolitik in vornehmer Zurückhaltung und stillschweigender Billigung dieser Konsolidierung des Assad-Regimes übt, arbeiten vor Ort kleine zivilgesellschaftliche Organisationen an einer Aufklärung der Verbrechen. Dazu gehören etwa unsere Partner*innen von den Human Rights Guardians. Sie dokumentieren Fälle von Verschwundenen, sammeln Beweise und versuchen so, künftige Gerichtsverfahren zu ermöglichen. Das alles frei nach dem Motto: Ohne Gerechtigkeit, kein Frieden.

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