Unser Gesprächspartner Shadi[1] stammt aus der kleinen, grauen Damaszener Vorstadt Erbin. In dichter Besiedelung leben dort etwa 70,000 Menschen in typischen, mehrstöckigen Hochhäusern in denen sich Wohnung an Wohnung reiht. Erbin liegt nur etwa 6 km nördlich vom Stadtzentrum Damaskus, doch das Leben dort könnte kaum unterschiedlicher sein: vor 15 Monaten wurden die letzten Regierungssoldaten aus Erbin vertrieben, daraufhin drehte die Regierung Wasser- und Stromleitungen ab und schloss die Zugangstrassen. Erbin ist nun ‚befreites Gebiet’, die Stadt ist sich selbst überlassen.
Shadi lebt seit 2001 in Deutschland, ist jedoch täglich mit seinen Verwandten in Erbin in Kontakt. Zwei seiner Geschwister arbeiten dort in der jetzt unabhängigen öffentlichen Verwaltung, Shadi selbst ist aktiv in der Organisation von Hilfsmitteln aus dem Ausland.
AAR: Seit Monaten sind 70,000 Menschen vom öffentlichen Strom- und Wassernetz abgeschnitten. Wie soll man sich da ein alltägliches Leben eigentlich vorstellen?
Shadi: Erbin wurde früher durch eine einzige, zentrale Wasserleitung versorgt, die hat die Regierung im Juli 2012 abgestellt. Seitdem läuft die Wasserversorgung über einige Pumpen, machen Leute haben Glück und haben alte Brunnen auf ihren Grundstücken. Die Pumpen werden an bestimmten Zeiten betrieben, dann stehen die Leute mit Eimern und Kanistern an. Das Wasser wird rationiert, der Zusammenhalt der Menschen ist stark.
Und die Stromversorgung?
Die läuft über Generatoren, die mit Diesel betrieben werden. Die, die einen Generator haben, versorgen über Leitungen mehrere Nachbarn, die all paar Tage ein paar Liter Diesel vorbeibringen. Es wird nur der allernötigste Strom erzeugt, die Versorgung ist minimal, denn der Liter Diesel kostet in Erbin inzwischen 2 Euro.
Wie sieht es mit Handy und Internet aus?
In Erbin gibt es einige Häuser mit 5 Stockwerken. Wenn man ganz nach oben steigt, empfängt man manchmal ein schwaches Handysignal aus Damaskus. Internet ist nur über Satellitenanlagen zu bekommen. Seit einem Jahr hat mein Bruder, der oft international über unsere Lage berichtet, so eine Anlage, seitdem sind wir bei allen Nachbarn besonders beliebt, die bei uns mit Ihren Verwandten sprechen! Die Satellitenanlage wurde über Spenden finanziert, auch von Adopt A Revolution. Die Verbindung ist etwa 1 MB schnell, nach dem Chemieangriff im August hat es sechs, sieben Stunden gedauert, bis die Nachrichten hochgeladen waren. Es lassen sich maximal drei Computer anschließen; es ist ein sehr wichtiger Kontakt nach außen.
Deine Mutter wohnt seit etwa einem Jahr mit zwei jüngeren Geschwistern in einem anderen, ruhigeren Vorort. Kommt sie manchmal nach Erbin, um ihre anderen Kinder zu besuchen?
Das letzte Mal war sie vor sieben Monaten dort und danach hat sie gesagt: erstmal nie wieder! Auf der Straße zwischen Damaskus und Erbin gibt es immer mehrere Checkpoints, wo Ausweise kontrolliert werden. Manchmal muss man dort acht Stunden warten, ohne ersichtlichen Grund. Da dauert eine Reise von wenigen Kilometern den ganzen Tag. Die Soldaten an den Checkpoints wirken gelangweilt, sie lassen die Leute einfach nicht durch und wehe jemand sagt etwas. Die Checkpoints sind gefährlich, und wenn jemand im Ausweis als Herkunftsort Erbin stehen hat, ist es schon mal schlecht. Erst kürzlich sind drei Menschen an einem Checkpoint einfach hingerichtet worden, zwei Erwachsene und ein Jugendlicher. Man weiß nicht warum, sie wurden zur Seite genommen und erschossen und am Straßenrand liegengelassen. Niemand in der Schlange hat sich getraut, etwas zu sagen oder zu machen. Nach Damaskus fährt man nur, wenn man einen sehr, sehr wichtigen Grund hat.
Wie gelangen denn Nahrung und andere Waren nach Erbin?
Die Nahrungsmittellage ist angespannt, besonders wegen der starken Inflation. Nachdem die Straße geschlossen wurde, konnten sich sehr bald auch Mittelschichtfamilien plötzlich nicht genug Essen leisten, weil auch das Gas, mit dem in Syrien gekocht wird, sehr teuer wurde. Daraufhin wurde eine Grossküche eingerichtet, die nun jeden Tag für 3000 Menschen einfache Gerichte wie Reis oder Bulgur mit ein bisschen Gemüse, selten Fleisch, bereitstellt. Das Essen wird in riesigen Kochtöpfen in einigen Kellerräumen zubereitet, solche Töpfe haben wir früher auf Hochzeitsfeiern verwendet, sie haben eineinhalb Meter Durchmesser! Die Zutaten stammen zumeist aus den Lagern der vielen, kleinen Lebensmittelfabriken in Erbin, sie werden von den Besitzern gespendet. Erbin ist seit langer Zeit ein Zentrum der syrischen Lebensmittelindustrie. Jetzt wird täglich etwa 1 Tonne Reis oder Bulgur gekocht und verteilt, das ist ein Erfolg.
Gibt es irgendwelche Schlupflöcher, über die Erbin zusätzlich versorgt werden kann?
Kleinere Mengen an medizinischem Material oder anderen Gütern können in Autos geschmuggelt werden, aber das ist wegen der Checkpoints sehr gefährlich. Aber es gibt ein Schlupfloch. Zwischen Erbin und einem nördlichen Vorort, Mukhayam Luafedin, gibt es einen Checkpoint, der von einer pro-regime Miliz unterhalten wird. Diese Miliz bekommt inzwischen Waren aus ganz Syrien geliefert und die verkaufen sie weiter, egal an wen. Sie sind zwar pro-regime, aber wenn Geld da ist, werden sie wieder schwach. Das ist wie eine Schleuse. Natürlich sind die Waren dort um ein vielfaches teurer. Gespendetes Geld, vor allem von Verwandten, die in den Golfstaaten arbeiten, hilft. Internationale Hilfsorganisationen spenden ungern für Nahrungsmittel, da sie meinen, nicht kontrollieren zu können, wer davon profitiert.
Wie wird unter diesen Bedingungen die medizinische Versorgung organisiert?
Erbin hatte vor 2011 eine sehr hohe Dichte an Ärzten. Fast alle sind geflohen und nicht zurückgekehrt. Das ehemalige Krankenhaus liegt direkt an der Front und wurde aufgegeben. Jetzt haben wir ein Krankenhaus in einem Kellerraum, mit einem Arzt, der fast alles macht. Operiert wird auf einem Tisch. Dem Arzt wird von Laien zugearbeitet, z. B. mein Bruder, er ist Apotheker, operiert aus der Not heraus häufig mit, einer der Helfer ist Schreiner. Der Arzt übernimmt die gesamte Versorgung, auch auf Spezialgebieten, die er eigentlich nicht kennt. Wir haben zu wenige Materialien, Verbände können nicht häufig genug gewechselt werden, und es gibt Probleme mit Infektionen und Wundbrand, an denen Menschen sterben, die eigentlich erfolgreich operiert wurden.
Zur Zeit gibt es eine Impfkampagne für Kinder. Die wurde mit dem Regime abgestimmt und über Vermittler organisiert, denn den Impfstoff gibt es nur über die Regierung. Die Impfkampagne läuft diskret, denn die Regierung möchte nicht, dass sich die Nachricht darüber verbreitet. Ich vermute, dass sie nicht will dass so eine Kooperation mit einem befreiten Gebiet publik wird, weil das die Behauptung, dass sie nicht mit Terroristen verhandelt, schwächen würde. Denn für die Regierung sind wir ja Terroristen! Die Impfkampagne zeigt mir: das Regime denkt rational, es will sein Überleben sichern. Manchmal gibt es Kompromisse.
Adopt a Revolution hat Spenden für zwei Schulen in Erbin vermittelt. Geht der Unterricht in der Stadt weiter?
Es gibt insgesamt 8 neue Schulen, an denen 3200 Kinder und Jugendliche unterrichtet werden. Es ist wichtig, dass die Kinder nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen. Alle Schulen sind von der neuen, unabhängigen Verwaltung aufgezogen worden. Die Spenden von Adopt a Revolution und USAID decken die laufenden Kosten, aber nicht die Einkommen der Lehrer, das wäre zu teuer. Daher arbeiten alle Lehrer und Lehrerinnen ehrenamtlich. Wir versuchen, Ihnen hier und da etwas zu geben, besonders denen, die kleine Kinder haben. Die Regierung hat aufgehört, die Gehälter der Lehrer zu zahlen. Zur Zeit denken wir daran, für die Kinder der Lehrerinnen und Lehrer einen unentgeltlichen Kindergarten zu organisieren, damit sie wenigsten Ihre Kinder gut versorgt und nahe bei sich wissen, wenn sie arbeiten. Seit Erbin befreites Gebiet ist, hat es Veränderungen im Unterricht gegeben. Zwar werden noch die alten Schulbücher benutzt, aber mit der ständigen Verherrlichung Assads ist Schluss. Zum Beispiel gab es früher ein Fach, dass grob übersetzt Nationalkunde hieß. Da wurden immer nur die Errungenschaften der Asads gepriesen. Das gibt es nicht mehr.
Haben die Menschen denn angesichts dieser ganzen Entbehrungen noch Zeit und Lust über Politik nachzudenken?
Ja, sogar sehr viel. Politik bleibt sehr wichtig in Erbin. Alle zwei Wochen gibt es eine sehr kleine, lokale Zeitung, dass heißt ein paar zusammengeheftete Blätter, in denen Freiwillige die wichtigsten internationalen und lokalen Nachrichten zusammenfassen. Die Nachfrage nach der Zeitung ist sehr groß, auch sie wird über internationale Spenden finanziert. In Erbin ist ein Gebiet der Redefreiheit entstanden und das schätzen die Menschen immer noch sehr. Wir fangen langsam an, mit anderen Vororten oder befreiten Gebieten zu kooperieren, allerdings nur sehr langsam, weil es schwierig ist. Die meisten in Erbin glauben nicht an ein baldiges Ende des Konflikts.
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[1] Name geaendert.