„Die Gewalt überschattet den Revolutionstag – aber wir müssen zusammenstehen“

Am 15. März feiern Syrer*innen den Revolutionstag – erstmals ohne Assad. Doch die jüngste Gewalt zeigt: Der Kampf ist nicht vorbei. Unsere Partnerin Safa Kamel war in den betroffenen Gebieten.

Safa Kamel, Binnenvertriebene aus Ost-Ghouta, ist Leiterin der Organisation KLYA, die sich auf das Empowerment von Frauen, insbesondere von weiblichen Ex-Inhaftierten aus den Regime-Gefängnissen, spezialisiert hat. Derzeit bereitet KLYA die Eröffnung eines Zentrums in Damaskus vor und entwickelt ein Programm zur psychosozialen Unterstützung von Frauen, die kürzlich aus der Haft entlassen wurden, sowie ihrer Angehörigen. Nun will sie auch in der Küstenregion helfen.

Nur eine gute Woche vor dem Jahrestag der Revolution eskaliert die Gewalt erneut. Kann unter diesen Umständen überhaupt noch von einem Tag des Feierns gesprochen werden?

Safa Kamel: Eigentlich sollte dieser Jahrestag ein Symbol für unseren langen Kampf und unsere Errungenschaften sein. Doch angesichts der extremen Gewalt in den Küstenregionen empfinden wir vor allem Trauer und Wut. Hunderte Menschen wurden Opfer gezielter Gewalt, ihre Familien sind traumatisiert und verzweifelt. Bewaffnete Gruppen verübten brutale Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Die Angst war so groß, dass einige den Schutz von russischer Seite forderten und Zuflucht in der Militärbasis Hmeimim suchten.

Die Offensive und deren Bekämpfung wurden auf mehreren Ebenen geführt: militärisch, zivil – und medial. Angst und Hass wurde durch gezielte Kampagnen weiter geschürt. Der Gewaltausbruch führt uns schmerzlich vor Augen: Unsere Freiheit haben wir nicht mit dem Sieg am 8. Dezember errungen. Wir müssen weiterkämpfen und auch in solchen Krisen zusammenhalten.

AaR: Welche Schritte sind jetzt notwendig, um eine weitere Eskalation zu verhindern?

Kamel: Zunächst müssen wir die Zivilbevölkerung vor Ort schützen und ihnen vermitteln, dass sie nicht allein sind. Ich war mit Aktivist*innen in den betroffenen Gebieten und habe gesehen, wie groß die Angst ist – aber auch, wie stark die Solidarität unter den Menschen bleibt.

Es ist entscheidend, Falschinformationen zu entlarven und die gezielte Hetze gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu stoppen. Der Medienkrieg hat großen Einfluss auf das Verhalten der Menschen. Deshalb arbeiten wir daran, durch Aufklärung und Dialog konfessionelle Spannungen zu verhindern. Zudem müssen alle politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure zusammenkommen, um langfristige Lösungen für die Sicherheit der Menschen zu finden.

Safa Kamel war mit ihrem Team in der Küstenregion nach dem Gewaltausbruch.

AaR: Welche Rolle kann die Zivilgesellschaft in dieser Krise spielen? Was tut ihr konkret vor Ort?

Kamel: Wir organisieren Besuche in den betroffenen Regionen, sprechen mit den Menschen, hören ihre Sorgen und zeigen, dass wir als syrische Gesellschaft zusammenstehen. Besonders wichtig ist es, lokale Initiativen zu unterstützen, die den gesellschaftlichen Frieden fördern.

Gleichzeitig arbeiten wir daran, Manipulation durch äußere Akteure entgegenzuwirken. Es gibt Kräfte, die Syrien destabilisieren und spalten wollen – unsere Aufgabe ist es, das Bewusstsein der Menschen zu schärfen und ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, um sich nicht instrumentalisieren zu lassen. Dieser Jahrestag mag von Gewalt überschattet sein, aber er erinnert uns auch daran, warum wir kämpfen: für eine vereinte, freie und gerechte Gesellschaft. Und diesen Kampf werden wir nicht aufgeben.

AaR: Welche zentralen Prinzipien bleiben trotz der aktuellen Krise bestehen?

Kamel: Freiheit, Bürger*innenrechte und politische Teilhabe sind die Grundwerte unserer Revolution – und sie sind jetzt wichtiger denn je. Die Gewalt der letzten Tage zeigt, dass unsere Errungenschaften noch lange nicht gesichert sind. Wir haben 14 Jahre für diese Werte gekämpft und dürfen nicht zulassen, dass sie uns wieder genommen werden. Es spielt keine Rolle, welche Kräfte versuchen, unsere Gesellschaft zu kontrollieren oder zu spalten – wir werden unsere Freiheit verteidigen und weiter für eine gerechte Zukunft arbeiten.

AaR: Inwiefern hat sich die Revolution verändert?

Kamel: Am Anfang kämpften wir für den Sturz des Regimes und die Befreiung unseres Landes. Jetzt stehen wir vor einer noch größeren Aufgabe: dem Wiederaufbau und der Gestaltung einer gerechten Gesellschaft. Der jüngste Gewaltausbruch zeigt, dass die Kräfte, die Syrien in alte Muster zurückstoßen wollen, noch immer aktiv sind. Doch wir haben gelernt, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Wir wissen jetzt, dass unser Kampf nicht nur militärisch oder politisch ist, sondern auch eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins.

AaR: Welche Bedeutung hat der Revolutionstag in diesem Jahr?

Kamel: Eigentlich sollte der Revolutionstag in diesem Jahr eine Feier der Befreiung werden. Doch angesichts der aktuellen Ereignisse wird er vor allem ein Tag des Gedenkens und der Mobilisierung. Wir haben Treffen mit Aktivist*innen organisiert, um die Lage zu analysieren und Strategien zu entwickeln. Ein wichtiger Schwerpunkt wird es sein, Frauen in den betroffenen Regionen zu unterstützen. Da vor allem Männer getötet wurden, tragen viele von ihnen nun die Hauptverantwortung für ihre Familien und brauchen dringend Hilfe. Unser Ziel ist es, ihnen Werkzeuge und Netzwerke an die Hand zu geben, damit sie in ihren Gemeinden eine aktive Rolle spielen können.