Du hast 2019 auf zahlreichen Demonstrationen der „Oktober-Revolution“ im Irak fotografiert und damit die Bewegung dokumentiert – wie hat das angefangen?
Für die letzte Demonstrationswelle, die wir „Tashrin“ (dt. Oktober) nennen, gab es kaum Mobilisierung. Ich hatte nicht geahnt, dass es zu solchen Massendemonstrationen kommen würde. Es war ein ganz normaler Tag, als die Proteste begannen. Ich war gerade auf dem Weg zu Fotogeschäften, die zufälligerweise alle am Tahrir-Platz sind, weil ich eine Speicherkarte brauchte. Auf einmal kam es dort zu einer spontanen Demonstration, und einer der jungen Menschen, die dort zusammengekommen waren, wurde erschossen. Er wurde in den Kopf getroffen und ist direkt vor mir zu Boden gegangen. Es war für mich dann eher eine Frage von Ethik meine Kamera rauszuholen, es ging mir nicht ums Fotografieren selbst.
Das einzige, was ich in dem Moment an Hilfe anzubieten hatte, war durch meine Fotos die Stimme dieser Protestierenden zu transportieren. Ich hatte keine Kamera dabei, nur mein Telefon. Ich holte es raus und begannen zu filmen. Ich wusste da noch nicht mal, worum es bei diesen Demonstrationen überhaupt ging.
Im Irak gab es seit 2011 mehrere Demonstrationswellen. Ich hatte auf all den Demonstrationen fotografiert, sei es in verschiedenen Gebieten in Bagdad oder in Basra 2018. Der Unterschied zu den vorangegangenen Demonstrationswellen war 2019 allerdings sofort klar: Hier wurde ab der ersten Minute extreme Gewalt gegen die Protestierenden angewandt.
Was waren die wichtigsten Gründe für die Tashrin-Proteste?
Es gab eine ganze Reihe von Gründen und Anlässen. Einer der wesentlichen Auslöser der Demonstrationen war die gewaltsame Reaktion des Staates auf den Streik der Universitätsabsolventen, die auf Stellenabbau im öffentlichen Dienst reagierten und Anstellung beim Staat verlangten. Wasserwerfer setzten heißes Wasser ein, etliche Absolvent*innen erlitten Verbrennungen. Die männlichen Teilnehmer wurden festgenommen.
Hinzu kam die Entlassung des populären Leiters der Anti-Terroreinheit Abdelwahhab Al-Saadi. Er galt als Antithese zu vielen Politiker*innen im Irak: nicht korrupt und nicht sektiererisch. Viele Leute waren also der Meinung, dass seine Entlassung ein großer Fehler der Regierung sei. Ein weiterer Grund, der Wut hervorrief, war die Entlassung vieler Soldaten nach den letzten Kämpfen gegen Daesh (der sog, »IS«, Anm. der Red.) in Mosul.
All diese Faktoren kamen zusammen. Ich denke aber, wenn diese Demonstrationen nicht so gewaltsam beantwortet worden wären, dann hätte sich „Tashrin“ nicht so entwickelt. Mehr als 100 Menschen starben, mehr als 2000 wurden verletzt. Erst durch die Repressionen entstand eine Bewegung, die grundsätzliche politische und soziale Veränderungen fordert.
Die „Tashrin-Revolution“ ist daher anders als alle anderen Bewegungen zuvor. „Tashrin-Revolution“ entwickelte sich zu einer Art Eigenname, aber meiner Definition von Revolution kommt sie noch nicht nahe. Es ist für mich tatsächlich eher eine massive Protestbewegung. In der Zeit zwischen dem 1. und dem 8. Oktober war ich bei allen Protesten in Bagdad dabei, bis ich dann selbst massive Drohungen erhielt.
Warum und von wem wurdest Du bedroht?
Ich muss etwas ausholen. Die Zentralregierung hatte in Bagdad und den anderen Provinzen, in denen es Protest gegeben hat, das Internet abgestellt. Es war darum schwer, Nachrichten über die Proteste zu verbreiten. Ich hatte Kontakt zur AP und Reuters, DW und anderen. Um ihnen Bilder und Informationen zu senden, mussten wir auf total primitive Methoden zurückgreifen.
Ich habe einen Freund in Kurdistan, dem ich über SMS die wichtigsten News schickte, also etwa wo und wann Menschen gestorben sind, wo es Brände gab, etc. Manchmal versendete ich Bilder per MMS, also in sehr geringer Qualität.
Am dritten Tag begann ich, Protestierende zu interviewen. Sobald ich damit fertig war, fuhr einer meiner Freunde, der beruflich zwischen Bagdad und Kurdistan hin- und herfährt, sechs Stunden lang mit dem Material nach Kurdistan, um es dort Freund*innen zu übergeben, damit sie es dort uploaden. In Kurdistan war das Internet nicht abgestellt. Das machten wir mehrere Male.
Unser Ziel war es, ein Bild dieser protestierenden Menschen zu verbreiten. Denn die irakischen Medien des Iraqi Media Networks, die die „Stimme der Bevölkerung“ sein sollen, entpuppten sich als die „Stimme der Regierenden“. Auch die Sender der islamischen Parteien verleumdeten die Proteste. Sie behaupteten, es gebe gar keine Proteste auf dem Tahrir-Platz… und das obwohl direkt hinter dem Korrespondenten im Bild die Proteste sogar zu sehen waren und man sogar sehr deutlich Schüsse hören konnte!
Ich hatte mir daher auf die Fahne geschrieben, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Dazu war ich auch in Kontakt mit nicht-irakischen arabischsprachigen Medien wie Al-Hurra, Al-Arabiya oder Al-Sharqiya und habe ihnen unter einem Pseudonym übers Telefon Interviews gegeben.
Schon am 5. Oktober zeigte sich, dass diese Aktivitäten gefährlich waren: Es gab einen Einbruch in das Büro des Nachrichtensenders NRT, es wurde ausgeraubt und verwüstet. Es folgten noch viele weitere Angriffe auf Einrichtungen, die versuchten, unabhängig zu berichten.
Wusstet Ihr, wer dafür verantwortlich war?
Ich könnte bestimmte Namen von Milizen nennen, aber ich denke, es ist wesentlich komplizierter. Denn die Regierung von Adel Abdelmahdi hat lange dazu beigetragen, dass diese Milizen so mächtig wurden. Vor Adel Abdelmahdi hatten wir einen Staat und ein paar Milizen – jetzt haben wir Milizen und ein bisschen Staat.
Die Milizen sind unter dem Schutz des Militärs Teil des Staates geworden. Man könnte sie auch als Geheimdienste bezeichnen. Sie sind vom Staat kaum zu unterscheiden. Wir wissen von welcher Seite die Personen kommen, die uns angriffen, aber es auszusprechen, hieße, uns großer Gefahr auszusetzen. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Repressionen im vollen Wissen und mit Rückendeckung des Staates passiert sind.
Ich bin Freelancer, ich habe keine Nachrichtenagentur hinter mir, die mich schützen könnte. Der Vorteil ist, dass ich alles, was ich sehe, so transportieren kann, wie ich es persönlich eben sehe. Aber wäre ich verschwunden, niemand hätte nach mir gesucht.
Nachdem NRT und andere Medien angegriffen wurden, bekam ich einen Tipp von einem Freund, dass mein Name auf der Liste der Milizen steht. Die schienen genau zu wissen, wem ich meine Bilder gab. Mir wurde geraten, mich und meine Familie zu schützen und zu fliehen. Das war krass für mich: Klar könnte ich verschwinden, aber was wenn sie auch meine Familie als Druckmittel nutzen?
Am selben Tag bekam ich Anrufe von iranischen Nummern. Das war ein Schock. Ich ging nicht ran und starrte nur auf das Display. Ich machte mein Telefon aus und begann täglich mehr als fünf Mal meinen Aufenthaltsort zu wechseln um mich niemals zu lange irgendwo aufhalten.
Zu dem Zeitpunkt war das Internet immer noch abgeschaltet. Ich entschloss mich, am 8. Januar nach Sulaimaniya (in Kurdistan-Irak, Anm. der Red.) zu gehen. Dort besorgte ich Tickets für meine Familie, um sie in der Türkei in Sicherheit zu bringen. Ich selbst beschloss in Sulaimaniya zu bleiben, denn die Mobilisierung für eine Großdemonstration am 25. Oktober lief bereits auf Hochtouren und ich wollte in der Lage sein, jeden Moment wieder nach Bagdad zu gehen.
Gab es früher schon so eine Art Sippenhaft bei den Bedrohungen?
Ja, definitiv. Die Bedrohung der Familien ist eine Waffe, die auch vorher schon eingesetzt wurde gegen Personen, die in irgendeiner Weise „nervig“ für die regierenden Autoritäten sind. Um an dich heranzukommen zerstören sie deinen Arbeitsplatz, bedrohen deine Familie, dein Zuhause.
Ich habe in einer internationalen Firma gearbeitet, die sehr bekannt ist, und trotzdem sind sie an meinen Arbeitsplatz gekommen und haben dort nach mir gefragt. Am 1. September, kurz vor Beginn der Proteste, hatte ich meine eigene Produktionsfirma aufgemacht. Niemand wusste davon, bis auf ein paar wenige Freelancer. Dennoch sind sie bei uns aufgetaucht. Sie haben einen sehr starken Geheimdienst inzwischen.
In vielen Fällen blieb es nicht bei Bedrohungen. Ich kenne etliche Leute, die bis heute verschwunden sind. Einige sind bereits am 3. Oktober 2019 verschwunden und niemand weiß, wo sie sind.
Wie ging es weiter, als Du dann in Sulaimaniya warst?
Ich blieb dort, um weiter die Möglichkeit zu haben, eventuell doch nach Bagdad zu gehen, wenn es die Situation erlaubt. Dann wurden am 16. Oktober 2019 der NRT-TV-Journalist Amanj Babani und seine ebenfalls als Journalistin tätige Frau Lana Muhammed ermordet, sowie ihr 3jähriger Sohn. (Die Polizei von Sulaimaniya behauptet, es habe sich um einen Doppelselbstmord gehandelt, aber daran gibt es erhebliche Zweifel, wie z.B. hier Babanis ehemaliger Kollege berichtet: https://www.aljazeera.com/opinions/2020/9/25/iraqs-kurdish-region-is-not-a-model-for-free-speech, A.d.R.).
Ab diesem Moment wurde meine Angst zu groß, um zu bleiben. Ich bin also sofort am nächsten Tag in die Türkei geflüchtet. Ich blieb dort zehn Tage, auch um meine Familie zu sehen. Dann wollte ich wieder nach Bagdad gehen. Bei den Protesten am 25.10.2019 wurden 34 Personen getötet und 200 wurden verletzt. Als ich das sah, wurde mir klar, dass meine Rolle noch lange nicht vorbei ist und ich weiter machen muss.
Ich beschloss also zurückzukehren, obwohl ich Angst hatte, dass meine Verfolger am Flughafen auf mich warten könnten. Ich sagte daher Freund*innen, dass ich um 21 Uhr ankomme. Sollte ich bis 23 Uhr den Flughafen nicht verlassen haben, sollten sie wissen, dass ich verhaftet wurde und diese Nachricht in den Sozialen Medien verbreiten.
Ich wurde zwar verhört und gefragt warum ich eine so große Kamera dabei hätte, aber verhaftet wurde ich nicht. Ich überzeugte sie, dass ich Hochzeitsfotograf sei. Ich hatte extra einige Hochzeitsbilder auf der Kamera gespeichert. Das hat sie wohl überzeugt.
Vom Flughafen bin ich direkt auf den Tahrir-Platz gefahren und habe ihn nicht mehr verlassen – außer ein einziges Mal, als ich versuchte, eine gegen die Tashrin-Proteste gerichtete Demonstration zu fotografieren. Ich hatte die naive Vorstellung, dass ich, wenn ich auch die andere Seite fotografiere, dann vielleicht nicht mehr als Tashrin-Aktivist verfolgt würde. Das blieb aber erfolglos.
Am 30.11.2019 wurde ich zusammengeschlagen und meine Kamera wurde zerstört. Die Kamera war für mich die rote Linie: bis hierhin und nicht weiter. Als sie mich freigelassen haben, habe ich mir sofort eine neue Kamera besorgt und begann im Detail ihre Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, die ich dann an Amnesty International, Human Rights Watch und UNAMI (United National Assistance Mission Iraq) weiterleitete.
Ich war ja sowieso den ganzen Tag auf dem Tahrir-Platz und konnte alles beobachten, dokumentieren und als Quelle für Hintergrundberichte dienen. Alle meine Bilder habe ich in dieser Zeit unter Creative-Commons-Lizenzen zur Verfügung gestellt, denn es war extrem wichtig für uns, dass diese Bilder so weit wie möglich verbreitet werden.
Außerdem wollte ich damit die Fake News bekämpfen, die die Sender der islamischen Parteien und der Regierung verbreiteten. Die Menge der falschen Nachrichten und der verfälschten Fotos war unglaublich. Ich erinnere mich etwa daran, dass sie ein Foto einer Demonstrantin verfälschten, das ich fotografiert hatte. Die Demonstrantin trug in Wirklichkeit ein Plakat, auf dem geschrieben stand: „I want a homeland“. Sie änderten den Inhalt den Plakats zu einer Beleidigung gegen einen religiösen Würdenträger oder dergleichen.
In all dieser Zeit hast du den Tahrir-Platz nicht verlassen?
Der Tahrir-Platz war für mich und viele andere lange der sicherste Fleck auf der Welt. Niemand von den Milizen konnte da einfach so rein und gleichzeitig war ich unter Leuten, die meine Freund*innen und Mitstreiter*innen waren, wir waren eine Masse an Menschen, die eine Haltung teilten.
Aber das änderte sich. Einmal kam eine mir unbekannte Person zu unserem Zelt auf dem Tahrir-Platz um mir „eine Nachricht“ zu überbringen. Ich ging dann nur noch Filmen, wenn mindestens zwei meiner Freund*innen dabei waren. Zu der Zeit häuften sich Vorfälle, bei denen Menschen in der Menge hinterrücks erstochen wurden.
Wie wart ihr organisiert? Hattet ihr euer eigenes Fotograf*innen-Zelt?
Wir waren in unserem Zelt drei Fotografen, aber auch drei Mediziner und ein paar Anwälte. Ich habe den Tahrir immer den „Kleinen Irak“ genannt, weil wir sehr unterschiedliche Leute waren. Sunniten, Schiiten, Christen, Yeziden, Shabak, Turkmenen… und alle fühlten sich zu diesem Ort zugehörig.
Wir haben durch viele Aktivitäten herausgestellt, dass unser Protest friedlich ist. Wir haben einen Tahrir-Strand am Fluss geschaffen, große Buchstaben „I love Tahrir“ aufgestellt und mit anderen Zelten die Silvester-Feierlichkeiten auf die Beine gestellt. Ich persönlich habe in unserem großen Zelt ein kleines Zelt aufgebaut, in dem ich alles Zubehör zum Filmen aufbewahrt habe. Dort fungierten wir als Ansprechpartner*innen für Nachrichtenagenturen, deren Recherche wir unterstützt haben.
Kannst du darauf eingehen, was den Ausschlag für dich gegeben hat, den Irak zu verlassen?
Mohammad Taufik Allawi war zu dem Zeitpunkt gerade Anwärter für die Stelle des Ministerpräsidenten. Er ist der Kandidat der Sadristen. Die Sadristen haben Anfang 2020 den Tahrir-Platz gestürmt beziehungsweise unterwandert auf sehr hässliche Art und Weise und mit sehr viel Gewalt. Sie haben ihre Gegenbewegung die „Blauhelme“ genannt. Diese Blauhelme haben versucht uns zu vertreiben und haben die freie Meinungsäußerung unterdrückt, die sich wie selbstverständlich auf dem Tahrir-Platz etabliert hatte. Also jeder der wagte, sich gegen Allawi als Kandidaten auszusprechen, wurde zusammengeschlagen.
Ich habe das alles gefilmt. Zwischen Filmen und der Verbreitung von Nachrichten brauche ich normalerweise circa drei Minuten. Ich bin schnell. Während sie dabei waren den Tahrir-Platz zu besetzen und die Menschen zusammenzuschlagen, habe ich jeden Schritt dokumentiert. Meinen Bericht habe ich dann schnell hochgeladen unter der Überschrift „Der Tahrir-Platz ist von Blauhelmen besetzt, die zur Sadr-Strömung gehören“. Das ist meine Art: Ich beleidige nicht, sondern versuche deskriptiv zu sein.
Ich wurde trotzdem angefeindet. Einer der Blauhelme kommt aus der Gegend, in der ich aufgewachsen bin und rief mich an: „Ali, Du bist auf der Liste. Pass auf, sonst wirst du verhaftet, entführt oder ermordet.“ Die Bedrohung war nun also eine ganz direkte. Ich habe nach dem Anruf sofort den Platz verlassen. Eine Viertel Stunde später standen sie vor unserem Zelt und haben nach mir gefragt. Nun war klar, dass ich gehen muss.
Ich bin nach Erbil am nächsten Tag und danach direkt in die Türkei. Seitdem bin ich hier. Vor einigen Wochen habe ich dann versucht, in den Irak zurückzukehren. Ich dachte mir, dass doch inzwischen über zehn Monate vergangen seien. Ich bin ich nicht weit gekommen. Am Rand von Bagdad wurde mir mitgeteilt, dass mein Name an den Checkpoints hinterlegt sei, die am Stadtring liegen.
Also bin ich zurück in die Türkei und habe die Entscheidung getroffen, meine Kameras zu verkaufen. Die meisten Leute fanden, das sei eine emotionale Reaktion und so bin ich bisher erst eine Kamera los geworden.
Fühlst du dich denn sicher in der Türkei?
Ich versuche mir das Gefühl von Sicherheit zu geben, aber objektiv habe ich das nicht. Ich bewege mich möglichst wenig. So viele Protestierende vom Tahrir-Platz sind nun hier und teilen mein Schicksal. Ich nehme von allen Abstand. Ich nehme stark an, dass die irakischen Milizen und die irakische Regierung mich auch hier kriegen könnten, wenn sie wollten. Also bleibe ich lieber verdeckt.
Reden wir hier von Dutzenden oder eher Hunderten, die wie du das Land verlassen mussten?
Ganz sicher sind es Hunderte. Es wurden so viele Menschen direkt bedroht oder ihre Familien in Sippenhaft genommen. Aber ganz sicher wird es immer wieder von Neuem Menschen geben, die es wagen, auf die Straße zu gehen. In Nasriyah, Basra und Amara gibt es immer noch Protest, obwohl dort extrem beängstigende Szenen stattgefunden haben: Die Häuser von Aktivist*innen wurden mit Sprengstoff und Raketen angegriffen. Es geht längst nicht mehr nur um stille Ermordungen mit Schalldämpfer.
Es scheint, als seien sie nicht dazu gezwungen, im Stillen zu töten.
Genau. Denn das Billigste im Irak scheint ein Menschenleben zu sein. Es macht mich so traurig, dass so sagen zu müssen. Aber das ist die Realität. Ich als Ali kann vielleicht in den Irak zurückkehren, mich ihren Forderungen und ihrer Macht beugen: Parteimitglied werden, Propaganda für diese Partei bei den kommenden Wahlen machen oder einer bewaffneten Miliz beitreten. Sie versuchen dich da reinzuziehen. Aber meine Prinzipien sind größer als das.
Du hast gerade erwähnt, dass die Demonstrationen an einige Orten immer noch aktiv sind. Wie siehst du die Situation der zivilen Protestbewegung derzeit, konnte sie aus deiner Sicht etwas verändern?
Immerhin haben die Proteste die Regierung verändert. Das ist schon mal eine Leistung. Wenn die Regierung von Abdelmahdi die gesamte reguläre Legislaturperiode von vier Jahren regiert hätte, dann würden wir wohl noch Schlimmeres erleben, als das bisher der Fall war. Dann würde es noch mehr Tötungen ohne Strafverfolgung geben. Außerdem haben die Proteste zu einem neuen Wahlgesetz geführt.
Die Bewegung ist derzeit in zwei Teile geteilt. Es gibt einen Teil, der sich jetzt politisch organisiert und seine Hoffnung auf die Wahlen setzt. Ich denke, dass die mächtigen Parteien, diese neuen, sich jetzt bildenden Akteure nur solange dulden werden, solange sie ihnen nicht gefährlich werden. Wenn die alten Parteien ihre Macht bedroht sehen, werden sie die neuen Parteien verfolgen und zerschlagen.
Der zweite Teil sind jene Leute, die keine Hoffnung haben, dass sich in diesem irakischen System etwas durch Wahlen ändert und die keine Lust auf solche politischen Spielchen haben und deshalb weiter protestieren.
Wir sehen das auch in Bagdad. Aber die Demonstrationen sind gerade eher klein und zurückhaltend. Das liegt vor allem daran, dass in Bagdad Aktivist*innen nicht mehr erst bedroht werden, sondern gleich kaltblütig erschossen. In Nasriya sieht es dagegen trotz der Bedrohung und der Gewalt immer noch anders aus. Nasriya ist für uns das pochende Herz der Bewegung. Ich denke, es wird wieder zu Protesten kommen.