Die neue Syrische Verfassung – Neuanfang oder große Farce?

Es sind sich alle Parteien einig: Syrien braucht eine neue Verfassung. Und die soll so schnell wie möglich kommen, um den Konflikt zu befrieden. Doch schon jetzt wird deutlich: Assad hat kein Interesse an Frieden.

Am Ende der von Russland initiierten Friedenskonferenz stand im Januar 2018 der Beschluss, ein verfassungsgebendes Komitee für Syrien einzusetzen. Der Plan: Diese verfassungsgebende Versammlung aus 150 Mitgliedern soll den Weg für eine komplett neue Verfassung ebnen. Knapp zwei Jahre später haben sich die beteiligten Parteien nun auf ihre Besetzung geeinigt.

Wer die Mitglieder sind, ist bislang nicht bekannt, wohl aber ihre Zusammensetzung: 50 Vertreter*innen der Opposition, 50 Regime-Anhänger*innen und weitere 50 sogenannte “unabhängige” Mitglieder, die von der UN bestimmt wurden – darunter Expert*innen, Stammesführer und Frauen. Wer genau hinter diesen undefinierten Personengruppen steckt, ist bislang aber unklar. Laut UN-Generalsekretär Antonio Guterres haben sich das Regime und die Opposition ihre Differenzen um die Gründung eines Komitees ausgebügelt. Widerstände und Konflikte hatte es bei der Besetzung des Komitees und beim Vorgehen bezüglich einer neuen Verfassung gegeben: Während das Regime die aktuelle Verfassung lediglich ergänzen wollte, strebt die Opposition eine gänzlich neue Verfassung an.

Die UN feiert ihren “Erfolg”

UN-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnet die Zusammensetzung des Komitees als “glaubwürdig, balanciert und inklusiv”. Kurden sitzen aber nicht mit am Verhandlungstisch.

Die UN, Russland, der Iran und die Türkei verkaufen die Liste als großen Erfolg und als weiteren Meilenstein auf dem Weg zu einer Befriedung des Konflikts. UN-Generalsekretär Guterres sagte, dass die Versammlung der Beginn ein politischer Weg aus der Tragödie, hin zu einer Lösung sein könne und sein müsse. Die Zusammensetzung des Komitees sei “glaubwürdig, balanciert und inklusiv” und träfe die Erwartungen aller Syrer*innen. Kurdische Vertreter sind nicht eingeladen, dabei sindein Drittel des Landes und große Teile seiner Öl- und Gasvorkommen in kurdischer Hand. UN-Beamte sagten, dass die Errichtung einer verfassungsgebenden Versammlung ein Schlüsselelement dafür sei, um politische Reformen und neue Wahlen in einem vereinigten Syrien und ein Ende des Krieges, der etwa 400.000 Menschen das Leben kostete und die Hälfte der 22 Millionen Bevölkerung vertrieb, zu ermöglichen. 

Irans Präsident Hassan Rohani: “Das ist ein langwieriger Prozess, da die Interessen aller Syrer realisiert werden müssen.”

Der ehemalige UN-Sonderbeauftragte für Syrien, Stefan de Mistura, der im November 2018 von seinem Posten zurücktrat, hatte schon lange eine neue Verfassung für Syrien anvisiert. Sein Nachfolger Geir Pedersen hat den Prozess nun eingeleitet. Nach einem Treffen mit Pederson und dem syrischen Außenminister Walid Mouallem in Damaskus hatte auch die syrische Regierung das Vorhaben unterstützt. Mouallem betonte dabei, dass die Versammlung “frei von jeglicher ausländischen Einflussnahme” sei. Das erscheint besonders ironisch, denn nicht nur die UN, sondern auch Russland, der Iran und die Türkei waren maßgeblich an dem Prozess beteiligt. Dass diese Mächte schon lange eine maßgebliche Rolle im Syrien-Krieg spielen und einen Stellvertreterkrieg im Land austragen, ist allgemein bekannt. Was Mouallem mit seiner Äußerung konkret meint, bleibt dabei unklar.

Schon jetzt Brüche zu beobachten

Klarer zeichnet sich jedoch der Standpunkt des syrischen Regimes ab, das sich nicht auf einen komplett friedlichen Prozess im Land einlassen will. Schon jetzt wird der syrische Außenminister nicht müde zu betonen, dass sich Damaskus nicht das Recht nehmen lassen wird, weiterhin den Kampf gegen “Terrorismus” fortzuführen. Dies ist insbesondere deshalb beunruhigend, weil diese scheinheilige Begründung dem Assad-Regime seit jeher dazu verhilft gegen seine Gegner*innen und Oppositionelle mit aller Härte vorzugehen. Die Verunglimpfung friedlicher Oppositioneller als Terroristen erlaubt dem Staat gegen diese mit  Gewalt und Repression vorzugehen: Festnahmen, Folter und das Verschwindenlassen gehören zum Tagesgeschäft des Regimes. Die von Guterres groß verkündete Wende durch eine verfassungsgebenden Versammlung lässt jetzt schon zu wünschen übrig.   

Zudem bemüht sich die Versammlung weder um ein Ende des Krieges, noch verhandelt sie den Aufbau demokratischer Strukturen für das Land. Welche konkreten Ergebnisse die Versammlung aus ihrem kleinen Arbeitsbereich hervorbringen kann und wird, ist derzeit noch unklar. Auch ist fraglich, wie sehr eine neue Verfassung als Teil der Lösung betrachtet werden kann, solange das Assad-Regime an der Macht bleibt. Bereits die aktuelle Verfassung beinhaltet Verweise auf ein friedliches und gerechtes System, die vom Regime ignoriert und nicht eingehalten werden. Artikel 1 in Kapitel 1 der Syrischen Verfassung weist Syrien als “demokratischen Staat” aus. In Artikel 8 ist die Rede von einem Staatssystem, das auf den “Prinzipien des politischen Pluralismus und der Ausübung demokratischer Macht durch Wahlurnen” beruhe. Wie viel Achtung das Assad-Regime gegenüber diesen in der Verfassung niedergeschriebenen Prinzipien zeigt, lässt sich sich bei den permanenten Wahlfälschungen zugunsten eines Einparteiensystems schnell erkennen. 

Simulierter Neuanfang

Die UN hofft dennoch, dass die Gespräche über eine neue Verfassung ein Klima und einen Mechanismus für freie und faire Wahlen schafft, beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2021. Syrische Offizielle haben bereits öffentlich Bashar al-Assad zur Präsidentschaftskandidatur aufgefordert. Gleichzeitig gibt es für oppositionelle Kräfte keine politische Lösung des Krieges, solange der syrische Diktator an der Macht bleibt. 

Der aus Norwegen stammende UN-Syrienvermittler Geir Pedersen soll das Gremium in den kommenden Wochen in Genf erstmals einberufen. 

Das Problem: In der aktuellen Verfassung ist die quasi-Alleinherrschaft des Präsidenten festgeschrieben, die bei einem Referendum 2012 sogar manifestiert wurde. Die damalige Verfassungsänderungen hatten nach den ersten 11-monatigen Kämpfen zwischen Regime und Opposition zum Ziel, eine Befriedung des Konfliktes und Wahlen herbeizuführen. Bereits damals hatte die Opposition kritisiert, dass die Verfassungsreform nicht weit genug gehe. Und bereits damals forderte sie den Rücktritt Assads, um echte Neuwahlen möglich zu machen und rief zum Boykott der Wahl auf. Heute ist die Opposition geschwächt und sieht sich gedrängt Zugeständnisse zu machen 

Was also sollte einen Diktator wie Assad daran hindern, weiterhin seine Macht in der Verfassung festzuschreiben und zu manifestieren? Vielleicht ist es eine Maskerade, um ein Scheinvertrauen in der Bevölkerung zurückzugewinnen und einen Neuanfang zu simulieren. Ob das klappen wird, könnte sich bereits in den kommenden Wochen zeigen – bereits am 30. Oktober könnte der Ausschuss möglicherweise das erste Mal tagen. Kritiker prophezeien den schnellen Zusammenbruch der Versammlung – in der Vergangenheit sind ähnliche Verhandlungen immer wieder gescheitert. Denn: In der Regel hatte das syrische Regime deren Erfolg zu verhindern versucht.