Die Prüfung – Zwischen Revolution und Regimekult

Ich lief zögerlich den Gang hinunter, bis ich den Prüfungssaal erreichte. Gedankenverloren betrat ich den Saal. Ich suchte meinen Namen, setzte mich auf den mir zugewiesenen Platz und wartete auf das Prüfungsblatt. Eine unheimliche Stille breitete sich im Saal aus, die mich sehr beunruhigte. Allerdings wusste ich bereits, was auf dem Prüfungsblatt stehen wird – […]

Ich lief zögerlich den Gang hinunter, bis ich den Prüfungssaal erreichte. Gedankenverloren betrat ich den Saal. Ich suchte meinen Namen, setzte mich auf den mir zugewiesenen Platz und wartete auf das Prüfungsblatt. Eine unheimliche Stille breitete sich im Saal aus, die mich sehr beunruhigte. Allerdings wusste ich bereits, was auf dem Prüfungsblatt stehen wird – es waren jedes Jahr die gleichen Fragen.

Endlich erhielt ich das Prüfungsblatt und überflog es rasch. Mir fiel eine fürchterliche Frage ins Auge, die mich so erschauern ließ, dass mein Gesicht vor Schreck ganz bleich wurde. Unbewusst schaute ich mit fragendem Blick umher. Natürlich, es gab zuvor schon ähnliche Fragen zu beantworten: in der Ober-, der Mittelstufe und sogar in der Grundschule. Ständig musste ich solche Fragen beantworten. An diesem Tag war jedoch etwas anders, so kam es mir zumindest vor.

Ich schaute mich um: Genau wie ich blickten viele schockiert auf das Blatt. Es war immer noch unheimlich still. Manche fingen ohne großes Überlegen an, zu antworten. Währenddessen sah ich meine verletzte und trostlose Heimatstadt vor mir, die ich zurücklassen musste. Ich träumte davon, wie ich einst in ihren Straßen und Gassen spazierte.

Die handschriftliche Aufzeichnung der Geschichte, Blatt I.
Die handschriftliche Aufzeichnung der Geschichte, Blatt I.

Sogleich fragte ich mich, was ich hier in der Universität machte, während viele junge Leute ihre persönlichen Träume aufgegeben hatten, um unserer Revolution zu dienen. „Was mach ich überhaupt hier?!“; viele Gedanken schwirrten in meinem aufgewühlten Kopf umher.

Ich zögerte mit der Antwort auf diese dumme Frage, doch dann erinnerte ich mich an die Worte meines Vaters: „Mein Sohn, lass die Revolution erstmal sein und bewaffne dich lieber mit Wissen. Deine Zeit ist noch nicht gekommen!“, ebenfalls sagte er mir: „Sei nicht traurig, mein Sohn, du wirst beim Wiederaufbau helfen, wenn das Regime gestürzt ist.“

Es verging einige Zeit und ich hatte immer noch kein einziges Wort geschrieben. Es fiel mir sehr schwer; diese eine Frage wühlte mich förmlich auf. Ich wurde nervös, aber fing endlich an, zu antworten.

So schrieb ich die Antwort mit Tinte, die mit meinen Tränen gemischt war. Eine Antwort, die noch in meinem Unterbewusstsein gedruckt war. Ich schrieb und schrieb.

Blatt II der Geschichte von Osama.
Blatt II der Geschichte von Osama.

Ich blickte zur Titelzeile des Papiers: „Das Ministerium für Hochschulbildung, Fakultät für Bauingenieurwesen, Nationalkunde“, und sah in der linken Ecke: „Name“. Schnell schrieb ich meinen Namen hin und legte das Blatt auf den Tisch, während die Aufseher unaufmerksam waren. Umgehend verließ ich den Saal, nachdem ich folgende Fragestellung beantwortet hatte: „Berichten Sie über die Leistungen des Präsidenten, Dr. Baschar al-Assad.“

Diese Geschichte wurde vom Studenten Osama verfasst. Seit 2014 steht Adopt a Revolution in Kontakt mit AktivistInnen aus dem Damaszener Vorort Douma, die uns Geschichten ihres Alltags berichten. Osamas Erzählung verdeutlicht, wie sehr das staatliche Bildungswesen in Syrien von der Propaganda des Regimes bestimmt ist. Das Fach “Nationalkunde”, das Osama im Text erwähnt, ist in Syrien Pflichtfach – auch im Abitur. In “Nationalkunde” lernen die SchülerInnen und StudentInnen die Errungenschaften des Systems Assad; auch dann, wenn genau dieses System der Grund für (ihre) Vertreibung und Unterdrückung ist. Übersetzung aus dem Arabischen durch Adopt a Revolution