Mindestens 270.000 Menschen – so viele EinwohnerInnen haben Wiesbaden oder Gelsenkirchen. So viele Menschen wurden im Süden Syriens binnen weniger Tage vertrieben. Sie sind auf der Flucht vor den Bomben der syrischen und der russischen Luftwaffe. Weil die jordanische Grenze geschlossen ist, gibt es für die Vertriebenen keinen sicheren Zufluchtsort – und so harren sie in der Hitze auf den Feldern am Grenzzaun aus, wo sie kaum humanitäre Hilfe erreicht. Russland und die Rebellen verhandelten derweil seit Tagen eine mögliche Lösung des Konflikts im Süden – doch gestern kollabierten die Konsultationen erneut. Einer unserer Partner schrieb uns: „Die internationale Gemeinschaft hat uns verkauft.“ Adopt a Revolution hat seine PartnerInnen gebeten, aus Daraa zu berichten. Sicherheitsbedenken sind der Grund dafür, dass bisweilen nur ein Initial genannt werden kann.
Sara, Ersthelferin aus Daraa-Stadt:
„Ich bin vorgestern um fünf Uhr an die jordanisch-syrische Grenze gefahren und inzwischen bin ich am Golan – ich musste unbedingt sehen und verstehen, wie die Lage an der Grenze ist. Es ist eine humanitäre Katastrophe: Zehntausende suchen Schutz unter den Bäumen. Die Situation ist eigentlich unbeschreiblich. Man bräuchte 1.000 Organisationen, um diesen Menschen zu helfen. Es gibt einfach nicht genügend Zelte und Lebensmittel. Ich werde aber in ein paar Tagen nach Daraa-Stadt zurückkehren. Vor der Stadt kampieren meine Familie und meine Leute im Freien auf den Feldern. Ich will bei ihnen sein und muss einfach darüber berichten, was dort passiert. Ich glaube nicht daran, dass bei den Verhandlungen etwas Positives für uns herauskommen wird. Dabei ist der Preis, den wir gezahlt haben, so hoch. Aber Russland wird nichts Gutes zulassen: Russland will die Rückkehr des syrischen Regimes in unsere Gebiete.“
Mohammed, Leiter eines Zivilen Zentrums in Jassim:
„Die Menschen fliehen immer noch aus den Gegenden, selbst aus Jassim ist inzwischen die Hälfte der BewohnerInnen geflohen, also fast 25.000 Menschen. Die nächste Front ist noch etwa acht Kilometer von uns entfernt. Aber auch ich habe meine Familie rausgebracht in ein Dorf in der Nähe des Grenzstreifens zum Golan. Wir haben dort keine Verwandten, aber auch einige Freunde haben ihren Familien dort in einem Haus untergebracht. Ich bin ständig mit anderen AktivistInnen im Kontakt. Am wichtigsten ist es jetzt, international auf die humanitäre Situation hier aufmerksam zu machen, sie ins Bewusstsein der Welt zu zerren. Viele Familien sind einfach in der Steppe ohne Haus oder Zelt.“
M., Aktivist aus Taiyba:
„Als die Offensive im Osten Daraas losging, sind die Leute noch in unsere Stadt geflohen. Wenige Tage später, mussten wir selber fliehen – weiter gen Westen. Zu Freunden. Wir hatten bislang Glück – immerhin haben wir ein festes Dach über dem Kopf. Viele andere leben gerade in Zelten in Steppe und Wildnis. Ich kann euch leider kein Bild schicken, denn wir haben Angst, dass das Regime die Gegend hier zurückerobert und dann dieses Haus und seine Besitzer identifizieren könnte.“
Sohep, Medienaktivistin aus Daraa-Stadt:
„Wir fliehen nun schon zum zweiten Mal. Das erste Mal vor einigen Jahren vor dem „Islamischen Staat“ und nun vor dem syrischen Regime. Wir waren in Jassim. Ich und meine Familie hatten Angst, dass plötzlich etwas passieren könnte und wir dann die Stadt nicht mehr verlassen könnten. Nun sind wir in einem Dorf im Nirgendwo an der Grenze. Wenn du irgendwas brauchst, musst du woanders hinfahren. Ich sehe von hier aus die UN, die sind nur 200 Meter entfernt. Ich glaube, um uns herum sind noch so 180.000 weitere Flüchtlinge. Die meisten hier sind aus Nawa, es sieht hier aus wie am Tag des Jüngsten Gerichts, so dicht sind die Menschen gedrängt.“
Moayyad, Aktivist und Theaterregisseur:
„Die letzten zehn Tage waren wirklich schwer. Wir hatten nicht erwartet, dass es zu so einem Kampf kommt. Die Bomben zerstören ganze Dörfer. Insbesondere die Luftangriffe der Russen waren wahnsinnig – das ist eine Politik der verbrannten Erde. Ich habe vor drei Tagen meine Familie in die Steppe gebracht und wollte, dass sie dort in Sicherheit bleiben. Sie sind dann aber wieder mit mir zurückgekommen, denn an der Grenze ist die Lage zu schlimm.
Wovor wir Angst haben? Wir haben hier in Daraa gelernt keine Angst um uns selbst zu haben, sondern um jene, die uns lieb sind. Die Mutter hat Angst um ihren Sohn, der Sohn hat Angst um seine Mutter. Das ist so ungefähr unser psychischer Zustand. Wir haben Angst vor der Bombardierung. Schlimm waren auch die Ungewissheit, die durch die vielen Falschmeldungen über die Verhandlungen zwischen Russland und den Rebellen genährt wurde – das hat uns fix und fertig gemacht.
Hier in Jassim ist die Hälfte der BewohnerInnen alleine aus Angst geflohen, dabei sind die Verhältnisse hier noch ganz stabil. Wir als AktivistInnen bleiben. Wir unterstützen die Verhandlungen, solange es um die Ziele der Revolution geht: die Bewahrung der Würde. Es braucht Sicherheit für die Menschen – und die letzten acht Jahre dürfen nicht umsonst gewesen sein.
Die Lage der Menschen, die geflohen sind, ist krisenhaft, im wahrsten Sinne des Wortes. Das ist eine humanitäre Katastrophe: Wir sprechen von 270.000 Menschen, die an den Grenzen festhängen. Du kannst es dir nicht vorstellen: Die Menschen schlafen ohne alles draußen im Freien. Wir hatten gehofft, dass es mehr Druck gibt, insbesondere von den SyrerInnen, die in den europäischen Staaten leben und Druck auf die dortigen Regierungen hätten ausüben können. Sie hätten stärker auf die Lage aufmerksam machen können. Das war doch der Geist der Einigkeit, den wir immer zusammen gelebt haben.“
Wir stehen in ständigem Kontakt mit den AktivistInnen unserer zivilen Partnerprojekte in Daraa und machen auf die Lage vor Ort aufmerksam. Zusätzlich unterstützen wir zivilgesellschaftliche Projekte in der Region. Helfen Sie mit, stärken Sie die syrische Zivilgesellschaft mit Ihrer Spende!
Herzlichen Dank!