Die heutigen Tage ähneln den Tagen von gestern nicht mehr… Liebe Heimat, nicht mal dein Tag ähnelt deiner Nacht… Denn nun heißt es nur noch: „Tod, vergossenes Blut, Angst…“.
Wenn nun der Tod unser Schicksal ist, vor dem es keine Zuflucht gibt – wie lange werden wir dann noch in dieser Angst leben? Wir kriegen mittlerweile weder Herzrasen noch Tränen in den Augen, wenn ein Mensch stirbt, keine tiefen Empfindungen und Gefühle. Was uns erschaudern lässt, ist eher die schiere Anzahl der Opfer.
Wie in dieser schrecklichen Nacht, am 22. August 2013. Ich wurde geweckt von den Sirenen der Krankenwagen, von den brüllenden Sanitätern und den verängstigten Menschen, die verzweifelt nach Hilfe suchten. Dieser Mörder [Bashar al-Assad] hatte uns in der östlichen Ghouta [Vororte von Damaskus] mit Chemiewaffen angegriffen. Frauen und Kinder waren plötzlich tot oder lagen im Sterben; er [Assad] wollte, dass unsere Kinder sterben – ohne dass sie einen Ton von sich geben, so dass niemand von ihnen hört.
Es wurde eine Anzahl von Verletzten in unsere Stadt gebracht, damit sie die benötigte medizinische Hilfe erhalten. Es waren so viele, dass sie manche Verletzten in der Schule meiner Straße behandelten. Ich lief also, so schnell ich konnte, dort hin.
Es fällt mir schwer, was ich dort sah, in Worte zu fassen; der Schulhof erinnerte an einen Wassersumpf, denn sobald ein Krankenwagen ankam, wurden die Verletzen mit Wasser übergossen. Anschließend wurden sie in das Erdgeschoss gebracht, wo es drei Räume gab: In dem einen wurden Männer behandelt, im zweiten Frauen und Kinder und im dritten Raum befanden sich Arzneimittel sowie Instrumente. Der Flur war voll mit den Leichen dieser Nacht. Es war sehr dunkel, man hörte nur Geschrei und Jammern.
Eine Frau griff mich am Arm und sagte: „Ich bin schwanger und habe Angst um mein Kind und mich! Bitte hilf mir!“ Sie flehte mich an und weinte. Sie dachte, sie hätte eine Chance zu überleben und könnte dem Tod entkommen. Dieser Tod wäre schlimmer als der „normale“ Tod: zu Tode ersticken.
Ich betrat den Raum der Frauen: Drei Frauen lagen in Betten, der Rest wurde auf dem Boden behandelt. Sie zeigten die verschiedensten Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, unwillkürliche Bewegungen. Und verengte Pupillen. Manche waren bewusstlos, andere schrien und riefen Namen.
Ich näherte mich einer Frau. Sie war um die 30 Jahre alt und saß in einer Ecke, den Kopf an die Wand gelehnt. Sie flüsterte mir zu: „Meine Kinder… Wo sind meine Kinder? Bitte such meine Kinder! Sind sie noch am Leben? Wo sind sie?“ Sie wiederholte es immer wieder: „meine Kinder“. Es berührte mich zutiefst. Wie konnte ich dieser Frau nur helfen? Wie konnte ich ihre Kinder finden? Bei der großen Anzahl von Verletzen und deren unterschiedlichen Behandlungsorten war das Erfüllen ihrer Bitte nahezu unmöglich.
Mitten im Raum saß ein Junge mit einem Asthmaspray. “Vergebung, lieber Gott!”, rief er laut. Ein zehnjähriger Junge, der um Vergebung bittet! Ein unschuldiges Kind wie er hat doch keine Sünden begangen, die vergeben werden müssten. Womöglich betete er um Vergebung für jene, die unseren Kindern diese grausamen Taten antun. Unsere Kinder kennen nur die Sprache der Liebe und des Friedens. Und jene anderen, die kennen doch nur die Sprache des Krieges.
Dies ist nur die Spitze des Eisbergs von dem, was ich in jener Nacht sah. Jene Nacht, in der ich nicht dachte, dass die Sonne jemals wieder aufgehen würde.
Dieser Text wurde uns von einer Aktivistin aus Douma, einem nordöstlichen Vorort von Damaskus, zur Verfügung gestellt. Im zweiseitigen handschriftlichen Bericht schildert die junge Frau die Situation, nachdem die östliche Ghouta mit Chemiewaffen angegriffen wurde. Adopt a Revolution steht in Kontakt mit AktivistInnen in Douma, die sich humanitär engagieren. So entstand der Gedanke, Berichte der AktivistInnen vor Ort auf dem AaR-Blog zu veröffentlichen. Der arabische Text wurde von einer AaR-Aktivistin ins Deutsche übertragen.