Übersicht über den aktuellen Stand und die Pläne der Türkei in Nordsyrien

Droht eine weitere türkische Militäroffensive in Nordsyrien?

Die Türkei hat eine erneute Militäroffensive im Nordosten Syriens angekündigt. Was hat es mit der Drohung auf sich, welche Ziele stehen dahinter und lässt sich das noch verhindern? Wir klären auf.

Übersicht über den aktuellen Stand und die Pläne der Türkei in Nordsyrien

DIE AUSGANGSLAGE

Am Montagabend des 23. Mais kündigte Erdoğan eine erneute Militäroffensive im Nordosten Syriens an. Das wäre nach Oktober 2019 ein weiterer völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Kurden, den der türkische Staatspräsident als Präventivmaßnahme zur eigenen Sicherheit verkauft. Das Ziel: Es soll eine 30 Kilometer tiefe sogenannte „Sicherheitszone“ in den Teilen der kurdischen Gebiete geschaffen werden, die unter der Kontrolle der SDF stehen.

Bereits mit der Militäroffensive im Oktober 2019 wurde eine solche Zone im Grenzgebiet eingerichtet, aus der sich die YPG im Rahmen eines Abkommens zurückgezogen hat. Seitdem kontrolliert die Türkei den Landstrich zwischen Sere Kaniye/Ras Al-Ain und Tell Abyad/Girê Sipi. Das reicht Erdoğan nicht mehr – jetzt sollen die Gebiete rund um die Städte Tall Rifaat/Shahba, Kobané/Ain Al-Arab, Ain Issa und Manbidsch erobert werden.

Durch die Eroberung dieser Region könnte Erdoğan die im Nordwesten unter türkischer Besatzung stehenden Gebiete in Rif-Aleppo mit den bereits besetzten kurdischen Gebieten verbinden.

Rot schraffiert die mit dem Angriffskrieg 2019 geplante und schließlich durchgesetzte Zone unter türkischer Kontrolle.
Die jetzt geplante Erweiterung der türkischen Kontrollgebiete laut türkischer Medien. Damit wären bis auf Qamishli alle relevanten syrisch-kurdischen Städte in der Hand der Türkei

DIE FOLGEN

Die Schwächung der Region führt zur Stärkung des IS

Eine türkische Drohne traf am 1. Juni 2022 ein medizinisches Zentrum in Tall Rifaat/Shahba. Das ist bereits der 40. Drohnenangriff der Türkei gegen Nordsyrien dieses Jahr.

Bereits seit Monaten finden fast täglich türkische Drohnenangriffe auf die nordsyrische Grenzregion statt. Die finale Großoffensive werde gestartet, sobald Militär, Geheimdienste und Sicherheitskräfte ihre Vorbereitungen abgeschlossen hätten, erklärte Erdoğan. Nur einen Tag später setzte der türkische Außenminister Çavuşoğlu diese Aussage in Klammern und schwächte die Drohungen ab: Nur wenn die Gefahr für die Türkei in den Grenzgebieten zunehme, sehe sich die Türkei gezwungen die Militäroperation durchzuführen. Die Region solle von Terrorismus gesäubert werden.

Die vermeintlich ausgemachte Bedrohung ist die kurdisch dominierte Selbstverwaltung für Nordost-Syrien, die inzwischen ein Drittel Syriens ausmacht und in der ethnische und religiöse Minderheiten gleichberechtigt miteinander leben. In ihrem militärischen Arm YPG sieht Erdoğan einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Für die USA ist die YPG hingegen eine wichtige Partnerin im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat. Dieser würde von einem weiteren türkischen Militäreinsatz in Nordost-Syrien profitieren.

Bereits seit einigen Wochen ist der IS wieder auf dem Vormarsch: Seit April hat die Terrororganisation mehr als 20 Anschläge verübt – in nur 10 Tagen waren es mehr bestätigte Anschläge als im Februar und März zusammen. Vor allem in Deir Al Zoor, aber auch in Gebieten, die in der Regel von der IS-Gewalt verschont bleiben, wie Manbidsch, Raqqa oder die Region Jazeera schlägt der IS derzeit zu. Die Extremisten profitieren aktuell zum einen davon, dass die internationale Aufmerksamkeit bei der Ukraine liegt und zum anderen von der fragilen geopolitischen Lage in Nordsyrien. Ein weiterer türkischer Angriffskrieg würde diese verschlimmern und die Region weiter destabilisieren.

Demografischer Wandel zerstört das syrische Sozialgefüge

Ein weiterer Grund für die türkischen Kriegspläne: Im Mai kündigte Erdoğan ein Projekt zur Ansiedlung von einer Million syrischer Flüchtlinge in insgesamt 13 kurdischen Gebieten an. Der Plan selbst ist nicht neu, sondern liegt spätestens seit der Invasion 2019 offen auf dem Tisch. Jetzt steht er kurz vor der Umsetzung. Mit der weiteren Vertreibung der kurdischen Bevölkerung aus völkerrechtswidrig eroberten Gebieten hätte Erdoğan genug Platz geschaffen, um ein Viertel der in die Türkei geflüchteten Syrer*innen unter Zwang umzusiedeln.

Diese Pläne der Massenabschiebung verstoßen nicht nur gegen das humanitäre Völkerrecht, die ethnische Massenvertreibung der ortsansässigen kurdischen Bevölkerung ist zudem ein Kriegsverbrechen. Trotzdem arbeiten die türkischen Besatzungsgruppen bereits fleißig am Bau von neuen Wohneinheiten und Gemeinden, in denen die mehrheitlich arabischen Geflüchteten dann zwangsumgesiedelt werden sollen, während die kurdische Bevölkerung durch den Angriffskrieg vertrieben wurde. Dieser Bevölkerungsaustausch bedroht massiv das syrische Sozialgefüge.

DIE POLITISCHE DIMENSION

Obwohl die offenen Vorhaben der Türkei gegen das Völkerrecht und Kriegsrecht verstoßen und dramatische Folgen für die Bevölkerung hätten, sind die Internationale Gemeinschaft, die EU und auch die Bundesregierung auffällig leise – öffentliche Kritik gibt es kaum. Es ist anzunehmen, dass die Türkei im Fall einer neuen Offensive wenig Widerstand gegen ihr Vorgehen erwartet.

Das liegt zum einen an diversen Abhängigkeiten von der Türkei – in der NATO, aber auch durch den EU-Türkei-Deal, zum anderen am Zeitpunkt der geplanten Offensive.

Der NATO-Streit

Türkische Operationen östlich des Euphrat benötigen die Zustimmung Russlands und der USA. Putin ist mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine derzeit anderweitig gebunden. Zudem stehen sich die Interessen der Türkei und Russlands in Syrien zwar nach außen hin gegenüber, tatsächlich haben sie sich vor Ort schon häufiger gewinnbringend für beide Seiten miteinander arrangiert – etwa 2018, als die Türkei im Gegenzug für die Rückeroberung Ost-Ghoutas durch Russland und das Assad-Regime unbehelligt Afrin einnehmen konnte.

Die USA hingegen versuchen die Türkei von der Militäroffensive abzubringen. Erdoğan nutzt sein Ass im Ärmel und blockiert derzeit die NATO-Norderweiterung mit seinem Veto-Recht, um die USA zu Zugeständnissen zu bewegen. Auch an Schweden und Finnland gibt es konkrete Forderungen in Bezug auf Nordsyrien: So sollen sie sich erst gegen die YPG wenden und ihre „Terrorhilfe“ einstellen. Gemeint ist damit die Finanzierung einzelner humanitärer Projekte in Nordsyrien, beispielsweise zur Verbesserung der Wasserversorgung oder zur Unterstützung für vom IS bedrohter und missbrauchter Frauen.

Zudem fordert Erdoğan die Aufhebung von Exportbeschränkungen bei Waffenlieferungen. Seit der Militäroffensive 2019 hatten unter anderem Schweden, Finnland und Deutschland Waffenexporte an die Türkei beschränkt. Bislang sind alle Gespräche zwischen Ankara, Stockholm und Helsinki gescheitert – Erdoğan mimt den Hardliner. Ein Tauschgeschäft zwischen der Türkei und dem Beitritt der beiden Staaten im Gegenzug für den Schutz des sicheren Gebiets entlang der türkisch-syrischen Grenze auf syrischem Gebiet durch die NATO ist aber durchaus möglich.

Auf der anderen Seite fordert die YPG von seinem Verbündeten und dem NATO-Mitgliedsstaat USA eine international verwaltete Pufferzone, die eine türkische Invasion abhalten und ihre Hegemonie in Nordost-Syrien aufrechterhalten kann. 

Die EU duckt sich weg

Bereits bei der türkischen Militäroffensive 2019 zeigte sich die EU maximal handlungsunwillig – über eine Verurteilung des Angriffskrieges ging es nicht hinaus. Denn die Türkei hält Erdoğan die syrischen Geflüchtete von Europa fern – das ist im EU-Türkei-Deal fest zementiert. Gleichzeitig steht am 10. Juli die Entscheidung im UN-Sicherheitsrat an, ob der letzte verbliebene Grenzübergang für humanitäre UN-Hilfslieferungen geöffnet bleibt. Russland könnte mit einem Veto dafür sorgen, dass er geschlossen wird – humanitäre UN-Hilfe könnte dann nicht mehr direkt nach Idlib geliefert werden. Das würde eine humanitäre Katastrophe und mutmaßlich eine weitere Fluchtbewegung nach Europa auslösen, sofern die Menschen die abgeriegelte türkisch-syrische Grenzen überwinden. Um das im Falle eines russischen Vetos zu verhindern, wäre die EU darauf angewiesen selbstorganisiert Hilfslieferungen über die Grenze zu bringen – und das geht nur in Kooperation mit der Türkei, mit der man es sich deshalb nicht verscherzen möchte.

Die syrischen Geflüchteten sind Faustpfand für Erdoğan. Wenn er seine geplante Zwangsumsiedlung nicht vollziehen kann, könnte er den EU-Türkei-Deal platzen lassen und die Grenzen zur EU für Geflüchtete öffnen. Das möchte die EU unbedingt verhindern und dürfte deshalb wieder nicht über eine Verurteilung der Militäroperation hinauskommen.

Die Alternative

Wie bei der Ukraine könnte die EU Schutzsuchenden eine Hand reichen, indem sie Erdoğan die Grenzen öffnen lässt und selbst viel mehr Geflüchtete aufnimmt. Gleichzeitig könnte sie die Türkei massiv dabei unterstützen, die Geflohenen menschenwürdig aufzunehmen. Es wäre vor allem ein politischer Befreiungsschlag: Der EU-Türkei-Deal hat die politische Handlungsfähigkeit der EU schon viel zu lange eingeschränkt.