Es war ein kalter Abend im Oktober 2013. Wir saßen um den Ofen im Haus eines Freundes, als Abu Bashir hereinkam und rief: „Sie haben die Straße bei al-Wafedeen abgeschnitten, wir sind jetzt komplett belagert. Keiner und nichts kommt mehr raus oder rein, wir sind auf uns alleine gestellt!“ Vor der Revolution war er, Vater zweier Kinder, Kaufmann. Nun war er mitverantwortlich für die Versorgung Ost-Ghoutas.
Ein, zwei Stunden nachdem die Nachricht die Runde gemacht hatte, war der Markt wie leer gefegt. Die Händler hatten alles versteckt, der Wert ihrer Waren hatte sich plötzlich vervielfacht. Ab diesem Moment sollte sich alles ändern: Unsere Art zu leben, zu essen, uns zu bewegen.
Ost-Ghouta, eine Region östlich von Damaskus, war das größte belagerte Gebiet Syriens. Fünf größere Städte und viele kleinere. Weil die Belagerung im Herbst begonnen hatte, gab es keine Chance, Vorräte anzulegen. Ohne Treibstoff stiegen die Leute auf Fahrräder und Motorräder um, bis jemand herausfand, wie man Diesel aus Plastik gewinnt. Stromgeneratoren wurden mit Tierfett betrieben, was rund zwei Stunden Elektrizität brachte – Zeit genug, um Autobatterien zu laden, die über LED-Lichter die Wohnungen beleuchteten. Um uns zu wärmen, verbrannten wir Müll und Holz.
Ein gesellschaftlicher Neuanfang
Schon während der Phase des friedlichen Aufstands waren viele zivile Gruppen entstanden. Ich entschied, ein Medienkollektiv zu gründen. Andere bauten Kliniken, Schulen oder lokale Verwaltungen auf. Oder sie versuchten, all diese Gruppen zusammenbringen, indem sie das Zivile Zentrum in Erbin schufen als Ort des Austauschs.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass all diejenigen, die unter der Diktatur geboren wurden, niemals kollektive demokratische Entscheidungen erlebt hatten. Doch plötzlich mussten sie ein System entwickeln, das die Institutionen des Regimes ersetzt: Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung und alle weiteren Details des Alltags. Die Belagerung erschwerte all das weiter und die Luftwaffe bombardierte uns täglich.
Inmitten dieses Horrors musste sich die ganze Gesellschaft von Grund auf neu entwickeln. Es fanden sogar Wahlen für die lokalen Räte statt, wegen des Mangels wurde alles bis zum Gehtnichtmehr wiederverwendet, wir teilten sogar Kleidung. Entweder würden wir gemeinsam überleben – oder jeder für sich sterben. Eine Belagerung ist die ultimative Waffe. Sie verändert die betroffene Gesellschaft. Vier Jahre lebte ich unter ihr, bis mir die Flucht gelang. Aber trotz Bomben- und Raketenbeschuss schufen wir uns Freiräume.
Das Erstaunlichste am Menschen ist seine Fähigkeit, sich den schwersten Situationen anzupassen. Wir bauten einen Kellerraum zum professionellen Musikstudio um. Es dauerte zweieinhalb Monate das Material zu sammeln, und während der Arbeit verspotteten wir uns selbst. Menschen sterben und wir bauen ein Studio. Warum? „Weil wir cool sind“, sagte mein Partner Milad, während er Holz zuschnitt. „Halt die Klappe und arbeite, bevor ein Flugzeug uns, unser Studio und unsere dummen Ideen auslöscht“, erwiderte ich. Aber alles gelang. Radios aus aller Welt nahmen hier Sendungen auf, von der BBC bis zu Lokalsendern. Auch BürgerInnen stand es offen.
Lektionen, die bleiben
Die Belagerung kann dich dazu bringen zu stehlen oder zu töten, insbesondere, wenn du für deine Kinder sorgen musst – aber sie kann auch dafür sorgen, dass Menschen sich umeinander kümmern: Wir teilten jede Erfindung, die das Leben ein wenig erleichterte. Und wir teilten unser Wissen für eine demokratische Diskussionskultur jenseits der Willkürherrschaft.
Fünf Jahre währte die Belagerung Ost-Ghoutas. Nur eine gewaltige Militäroffensive unter russischer Führung ermöglichte es Assad, die Kontrolle zurückzugewinnen. Zigtausende wurden vertrieben. Aber die Erfahrung und das Wissen sind mit den Überlebenden entkommen: Von den Methoden demokratischer und kollektiver Entscheidungsfindung bis zu den Überlebenstechniken. Nun teilen die Vertriebenen diese Erfahrungen in Nordsyrien, um auch dort zu überleben.
Die großen Demonstrationen der letzten Monate in Idlib und Aleppo sind Teil dieser unvergesslichen Lektionen, denn sie beruhen auf den Erlebnissen des Zusammenhalts. Solange wir diese Geschichten weitererzählen, die positiven wie die negativen, haben wir nicht wirklich verloren, denn unsere Gesellschaft hat sich für immer gewandelt.
Im Lexikon wird über Syrien immer von „Krieg“ statt von „Revolution“ geschrieben werden. Kaum einer außerhalb Syriens mag über den täglichen Widerstand der ZivilistInnen nachdenken. Aber ein Gefecht dauert nur Stunden oder Tage. Die Gesellschaft dagegen, entwickelt sich in jedem einzelnen Moment weiter – in einem toten Winkel, obwohl alle sie unterstützten sollten.
Dieser Beitrag stammt aus der neuen Adopt-a-Revolution-Zeitung. Lesen Sie hier alle Beiträge oder bestellen Sie einige Exemplare zum Verteilen!
Adopt a Revolution unterstützt in Syrien 13 Projekte der syrischen Zivilgesellschaft, die sich für Gerechtigkeit ohne Diktatur und Dschihadismus einsetzen und arbeitet hierzulande gegen die schleichende Akzeptanz des syrischen Unrechtsregimes. Unterstützen Sie diese Arbeit mit Ihrer Spende!