Raed Abu Rabia ist der leitende Redakteur der Zeitung Zaitoun, die 2013 von jungen Menschen in Saraqib gegründet wurde. In ihrer Berichterstattung legen sie das Augenmerk auf die zivilgesellschaftliche Bewegung in der Region. Viel Mut beweisen sie mit ihrer kritischen Berichterstattung über dschihadistische Milizen und andere bewaffnete Akteure.
An der Tür einer Schule in Samin, einer Stadt wenige Kilometer östlich von Idlib-Stadt, hat sich Blut mit Regenwasser gemischt. Zerrissene Körper von Frauen und Kindern liegen umher. Eine Streubombe hat zur Unterrichtszeit neun Lehrerinnen und Schüler*innen an einem der ersten Morgen dieses neuen Jahres aus dem Leben gerissen. 15 weitere Menschen wurden verletzt.
Medienaktivist*innen haben Bilder eines der verletzten Kinder verbreitet. Seine Familie war zuvor vor der Bombardierung auf Maarat Al-Numan geflohen – umsonst.
Ein Trauernder spricht aus, was viele hier denken: „Diese Bombardierung hatte ein einziges Ziel: Töten! Es hatte keinen anderen Grund. Die Bombardierung hat zu einem Zeitpunkt stattgefunden, als die Geflüchteten hier in der Stadt dicht gedrängt waren. Die ursprüngliche Einwohnerzahl der Stadt lag bei 20.000 Personen, mit all den Geflüchteten sind wir nun 80.000.“
Flucht im Takt des Regimes
Viele solcher Geschichten der Syrer*innen im syrischen Norden weisen auf das Ausmaß der Katastrophe hin, die die Menschen hier erleben. Über 250.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen – zu bleiben wäre einem Selbstmord gleich gekommen. Mit vor Kälte blau gefärbten Lippen und durchnässten Füßen flohen sie in die vor Feuchtigkeit triefenden Zelte. Andere Zufluchtsorte gibt es für sie meist nicht.
Manche blieben trotz der Bomben mit ihrer Familie. Mohammad Qasem aus Saraqeb zum Beispiel. Zu Neujahr hörte er die Streubomben, die auf seine Stadt fielen – ganz so, als sei es ein unschuldiges Feuerwerk. Mohammad blieb, weil er weder das Geld für einen Fluchtwagen noch für die Miete einer neuen Bleibe aufbringen kann. Wer glaubt, dass sich die im Bombenhagel ausharrenden Menschen freiwillig gegen die Flucht entscheiden, der irrt sich gewaltig. Wie Mohammad fehlen Tausenden schlicht die Mittel zur Flucht.
Aber auch für die Fliehenden ist die Situation oft aussichtslos. Aktuelle Statistiken sprechen von 250.000 Binnenflüchtlingen aus den bombardierten Gebieten und an der Front um Maarat Al-Numan. Viele finden keine richtige Behausung. Besonders in den derzeit noch sicheren Gebieten werden die Unterschlupfmöglichkeiten immer rarer. Menschen, die in unfertigen oder zerstörten Bauten leben, und verzweifelt versuchen, sich vor der Kälte zu schützen, indem sie die Öffnungen im Gemäuer irgendwie zustopfen, gehören hier mittlerweile zum Straßenbild.
Die ärmste Bevölkerungsschicht haust in Zelten. Während die Rohbauten zwar wenig Schutz vor Kälte, aber immerhin noch ein gewisses Maß an Privatsphäre bieten, entblößen Zelte mit ihren Stoffwänden ihre Bewohner*innen. Ein Zeltlager bietet keinerlei Sicherheitsgefühl – auch weil die wenigen Sanitäranlagen von so vielen Menschen genutzt werden müssen.
Wer trägt die Verantwortung?
Ein Teil der zivilen Aktivist*innen in Idlib macht die Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) für die Verluste im Feld und die katastrophale humanitäre Situation verantwortlich. Der zivile Aktivist Mohammad Fadal Al-Hassaan* aus Saraqeb schrieb vergangenen Montag auf seiner Facebook-Seite, dass die letzten Niederlagen in Idlib vermeidbar gewesen wären, wenn HTS nicht so willkürlich und tyrannisch auftreten würde gegenüber den Zivilist*innen und lokalen kämpfenden Gruppen.
Al-Hassaan ruft daher dazu auf, HTS aus Idlib zu vertreiben. Dies sei der erste Schritt, um die Revolution zu retten: „Es gibt keinen Unterschied zwischen dem einen Besatzer und dem anderen. Es gibt keinen Unterschied zwischen der einen Tyrannei und der anderen. Der erste Schritt zum Sieg ist es, den inneren Besatzer zu vertreiben – den Unterdrücker, der unter uns lebt, rauszuschmeißen.“
Assad ist dann als nächstes dran.
Studie zum zivilen Widerstand gegen HTS
Manche Städte Idlibs leisteten lange Zeit erbitterten Widerstand gegen die Dschihadistische Miliz HTS – zum Beispiel Maraat al Numan.