„Es mangelt an politischem Mut!“

Am 13. April befasste sich der UN-Sicherheitsrat mit sexualisierter Gewalt in Kriegen und Konflikten. Unsere langjährige Mitarbeiterin Mariana Karkoutly hat in New York vor dem Gremium zur Situation in Syrien gesprochen und nimmt seine Mitglieder in die Pflicht. Wir übersetzen ihre ergreifende Rede in leicht gekürzter Form ins Deutsche.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleg*innen aus der Zivilgesellschaft,

mein Name ist Mariana Karkoutly, ich bin Juristin und Mitbegründerin von Huquqyat, einer Mitgliederbasierten Organisation von Rechtsanwältinnen und Juristinnen, die sich für die Durchsetzung der Rechenschaftspflicht in Syrien einsetzen. Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, heute zu Ihnen sprechen zu können. […]

Accountability, das Thema dieser heutigen Sitzung, ist im syrischen Kontext ein sehr komplexes. Seit über einem Jahrzehnt erleben wir alle nur erdenklichen Grausamkeiten: Mehr als 350.000 Menschen wurden getötet, Zehntausende wurden willkürlich verhaftet oder verschwanden, fast 13 Millionen Menschen wurden vertrieben und weitere 14 Millionen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Konfliktparteien haben eklatant gegen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht verstoßen, chemische Waffen eingesetzt sowie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Regierungstruppen und bewaffnete Einheiten ermorden und foltern weiterhin Zivilist*innen und wenden systematisch sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt an.

Obwohl dieser Rat sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Syrien befasst, hat er es versäumt, Maßnahmen zu veranlassen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die syrische Regierung hat nicht nur systematisch gegen das Völkerrecht verstoßen, sondern auch gegen zahlreiche Resolutionen des Sicherheitsrats. Währenddessen haben einige Mitglieder dieses Rates die dringend erforderlichen Maßnahmen in Bezug auf Syrien blockiert, das syrische Regime vor der Rechenschaftspflicht geschützt und 16 Mal ihr Veto gegen Resolutionen zur humanitären Hilfe und zur Untersuchung des Einsatzes von Chemiewaffen gegen Zivilist*innen eingelegt. […]

Sexualisierte Gewalt in Haftanstalten

Die UN-Untersuchungskommission für Syrien hat selbst dokumentiert, dass seit 2011 im ganzen Land sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Zivilist*innen bei Bodenoperationen, an Checkpoints und in Haft eingesetzt wird – in erster Linie von Regierungstruppen und ihnen nahestehende Milizen, aber auch von anderen bewaffneten Gruppen. […] Diese sexualisierte Gewalt, von der Frauen und Mädchen unverhältnismäßig stark betroffen sind, findet auch in diesem Augenblick statt. […]

Schätzungen zufolge wurden in den letzten zehn Jahren in Syrien mindestens 150.000 Menschen willkürlich verhaftet, inhaftiert oder sind verschwunden; aktuell betrifft das mindestens 9.700 Frauen. Anwältinnen, Journalistinnen, Aktivistinnen und andere – wurden inhaftiert, weil sie sich dem Regime widersetzten, häufig aber auch, um männliche Verwandte zu bestrafen oder zu bedrohen, die gegen das Regime protestiert hatten. Die Anwendung sexualisierter Gewalt dient in Haftanstalten dazu, die Opfer zu demütigen, sie für ihren Widerstand zu bestrafen, um Geständnisse zu erzwingen und um den Willen der Menschen zu brechen. […]

Die tausenden Überlebenden von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt in der Haft können diese Verbrechen aus Angst vor Marginalisierung oder weiteren Vergeltungsmaßnahmen kaum anzeigen. Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die inhaftiert wurden oder sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, führen zu ihrer Ausgrenzung, Scheidung, sogenannten “Ehrenmorden” und Selbstmord.

Das syrische Regime hat sich dies zunutze gemacht, denn es weiß: Ein solcher Angriff auf Frauen nimmt in Wirklichkeit ihre Familien und Gemeinschaften als Ganzes ins Visier. […]

Allgegenwärtige Geschlechterdiskriminierung

Diese Verbrechen des syrischen Regimes werden durch das korrupte Rechtssystem und die in der syrischen Gesellschaft tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen und Mädchen ermöglicht. […] Darüber hinaus endet die sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen nicht in Syrien, sondern setzt sich in den Lagern, Siedlungen und Städten in der gesamten Region fort, wo Millionen syrischer Flüchtlinge […] leben. Die Zahl der Zwangs- und Frühehen von Mädchen in Flüchtlingslagern ist heute viermal so hoch wie vor dem Krieg, wobei die Familien ihre jungen Töchter verheiraten, um ihren finanziellen Bedarf zu decken und mit den prekären Lebensbedingungen zurechtzukommen. […]

Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht und Beendigung der Straflosigkeit

Die Bemühungen um Rechenschaftspflicht sind entscheidend für die Syrer*innen, die nach mehr als einem Jahrzehnt Krieg verzweifelt auf Gerechtigkeit warten. Solange das Assad-Regime an der Macht bleibt, ist eine innerstaatliche Rechenschaftspflicht unmöglich. […]

Herr Präsident, die syrischen Menschen können nicht länger auf Gerechtigkeit warten. Wir möchten alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ermutigen und rufen sie auf, die Rechenschaftspflicht im Rahmen der universellen Gerichtsbarkeit weiter zu verfolgen. Aber wir bitten auch Sie, den Sicherheitsrat, um Hilfe, indem Sie den Internationalen Strafgerichtshof mit der Situation in Syrien befassen. Denn obwohl dieser Rat seit 14 Jahren die Anwendung sexualisierter Gewalt in Konflikten verurteilt, herrscht Straflosigkeit – nicht nur in Syrien, sondern auch in vielen anderen Konflikten, die auf der Tagesordnung des Rates stehen. Dies liegt in der Regel nicht daran, dass sexualisierte Gewalt unzureichend kriminalisiert wurde oder dass die Täter unbekannt wären, sondern an mangelndem politischen Mut.

Der Sicherheitsrat muss die syrische Regierung dazu drängen:

  • das Völkerrecht zu respektieren, die Angriffe auf Zivilist*innen und zivile Infrastruktur einzustellen und eine sofortige, dauerhafte und landesweite Waffenruhe zu gewährleisten, damit das Land seine anhaltenden medizinischen und humanitären Krisen bewältigen kann, einschließlich der zunehmenden Nahrungsmittelknappheit.
  • die Folter, unmenschliche Behandlung und sexualisierte Gewalt sofort zu beenden – auch bei Festnahmen und in Haft.
  • alle willkürlich inhaftierten Personen freizulassen. Der bedingungslose Zugang zu allen Haftanstalten muss für internationale humanitäre und medizinische Organisationen gewährt werden, damit die Inhaftierten unverzüglich mit Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe versorgt werden können. Die Namen, der Aufenthaltsort und der Zustand aller Inhaftierten sowie einen Zeitplan für ihre Freilassung müssen bekannt gegeben werden.

Ich appelliere an den Sicherheitsrat, die Mitgliedstaaten und die Vereinten Nationen:

  • Rufen Sie den Internationalen Strafgerichtshofs wegen der Zustände in Syrien an.
  • Verabschieden Sie eine Resolution zur Situation der Inhaftierten und Vermissten, welche die völkerrechtlichen Verpflichtungen der syrischen Regierung unterstreicht […].
  • Strengen Sie Ermittlungen und die strafrechtliche Verfolgung aller Täter an, die sexualisierte Gewalt verübt haben. Stellen Sie sicher, dass alle Bemühungen zur Wahrung der Rechenschaftspflicht, einschließlich des internationalen, unparteiischen und unabhängigen Mechanismus (IIIM), die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter in den Mittelpunkt stellen.
  • Gewährleisten Sie die uneingeschränkte, gleichberechtigte und maßgebliche Beteiligung von Frauen an allen laufenden und künftigen politischen Friedens- und Versöhnungsprozessen, einschließlich einer neuen Verfassung.
  • Die Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt muss Vorrang haben […].
  • Stellen Sie sicher, dass der Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für sexualisierte Gewalt in Konflikten dem Sicherheitsrat regelmäßig über die Anwendung konfliktbedingter sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Syrien, einschließlich in Haftanstalten, Bericht erstattet, und dass alle Bemühungen zur Lösung dieser Probleme in Absprache mit Frauengruppen in Syrien entwickelt werden.
  • Stellen Sie sicher, dass der Sondergesandte für Syrien den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht, einschließlich willkürlicher Verhaftungen, des Verschwindenlassens von Personen, Folter und geschlechtsspezifischer Gewalt, in den politischen Diskussionen Vorrang einräumt, dass er die syrische Zivilgesellschaft zu Gesprächen über die Behandlung dieser Fragen einlädt und den Sicherheitsrat regelmäßig über diese Bemühungen unterrichtet.
  • Verlängern Sie den Mechanismus für humanitäre Hilfe über Grenzen hinweg für mindestens zwölf Monate und den genehmigen Sie erneut den Grenzübertritt über alle ursprünglichen Grenzübergänge, damit die humanitäre Hilfe den rasch steigenden Bedarf im Nordosten und Nordwesten Syriens decken kann. Der Zugang über diese Grenzübergänge ist eine unverzichtbare Lebensader für Millionen von Menschen in Syrien, von denen die meisten Frauen und Kinder sind.
  • Machen Sie Druck auf die waffenexportierenden Länder, damit sie die Waffenlieferungen stoppen und so den Einsatz von Waffen gegen alle Zivilist*innen verhindern.

Der derzeitige Krieg in der Ukraine und in anderen Teilen der Welt erinnern uns an unser eigenes Leid und an das erbärmliche Versagen dieses Gremiums, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Ich spreche im Namen der Millionen syrischen Mädchen und Frauen, die heute nicht hier sind, und fordere Sie auf, tätig zu werden. Denn ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben. Vielen Dank.


Die übersetzte ungekürzte Fassung der Rede gibt es hier zum Nachlesen.