Lange war es weitgehend ruhig in Qamishli, der größten Stadt im kurdisch geprägten Nordosten Syriens. Seit gestern liefern sich bewaffnete Gruppen Kämpfe und vom Stadtrand aus schießt das Assad-Regime mit Artillerie in das Zentrum. Mit einem Aktivisten haben wir über die Lage in der Stadt gesprochen und protokollieren hier seinen Bericht.
“Niemand hier weiß so genau, was eigentlich der Auslöser ist, aber gerade wird heftig gekämpft, immer wieder sind Schüsse hören. Es gab auch Beschuss mit Mörsergranaten von der syrischen Armee, die weiter am Flughafen und in einer Kaserne am Stadtrand stationiert ist. Alleine dabei sind mindestens vier Menschen getötet worden, Schätzungen gehen seit gestern morgen von über 20 Toten aus. Das Regime hat auch schon einen Kampfjet tief über die Stadt fliegen lassen, wahrscheinlich als Drohung, die Lage weiter zu eskalieren.
Gestern Nachmittag begannen die Kämpfe zwischen der Asayish, der vor allem von der PYD gestellten Polizeitruppe, und der National Defense Forces, einer bewaffneten Gruppe in den arabischen Vierteln der Stadt, die dem Regime loyal sind. Kämpfe um einzelne Checkpoints gab es zwischen den beiden Seiten schon in der Vergangenheit. Aber sonst sind die Auseinandersetzungen nach ein paar Minuten wieder vorbei und es kehrt Ruhe ein. Aber es scheint, jetzt geht es um mehr, denn die Kämpfe halten schon den zweiten Tag in Folge an. Außerdem war heute Mittag eine große Explosion zu hören, aber niemand weiß genau, was passiert ist. Ein Gerücht sagt, ISIS hätte einen Selbstmordanschlag verübt und fünf Asayish getötet.
Es gibt in der Stadt bewaffnete Gruppen in allen Vierteln, meist sortiert nach ethnischen Zugehörigkeiten – und im Zentrum kontrolliert das Assad-Regime weiter ein paar Gebäude. Diese Gruppen, vermutlich auch die PYD, wollen gerade offenbar ihre Einflussbereiche erweitern. Das bringt das Gleichgewicht ins Wanken, das wir bisher hatten und das ein relativ ruhiges Leben in der Stadt ermöglicht hat.
Viele haben die Einschätzung: Das Regime schaut sich an, wie die verschiedenen Gruppen miteinander streiten – und irgendwie hat es immer seine Finger mit im Spiel. Es lässt alle gewähren, solange sie der eigenen Machtposition nicht gefährlich werden und schürt damit letztlich den Konflikt zwischen den zahlreichen Ethnien und Konfessionen: Araber, Kurden, Assyrer – sie alle leben in der Stadt und dazu kommen noch die vielen vielen Binnenflüchtlinge, die aus anderen, stärker umkämpften Landesteilen hierher geflohen sind. Als zivile AktivistInnen der Zivilgesellschaft müssen wir daran arbeiten, dass alle miteinander auskommen, denn solche Kämpfe können keine Grundlage für eine offene Gesellschaft sein.”
Im Herbst 2014 gründeten AktivistInnen in Qamishli das Mandela House als ziviles Zentrum für Begegnung und Verständigung. Mit Diskussionveranstaltungen, Weiterbildungen und Aktionen im öffentlichen Raum setzen sich die Aktiven ein für den Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen und demokratische Entscheidungsstrukturen. Adopt a Revolution hat finanziell zum Aufbau des Zentrums beigetragen und unterstützt die laufende Arbeit. Helfen Sie mit, den Dialog zwischen den Bevölkerungsgruppen in Qamishli zu fördern!