Soziale Netzwerke stellen seit Beginn des Arabischen Frühlings ein zentrales Medium für den Ausdruck und die Organisation von gewaltfreiem Protest dar. Michael Pizzi verweist in The Atlantic darauf, dass Marc Zuckerberg, der gewiefte CEO von Facebook, diesen Fakt geschickt zu vermarkten nutzt. So habe Zuckerberg in einem Brief an potentielle Investoren auf die bedeutende Rolle seines sozialen Netzwerkes bei der Aushöhlung tyrannischer Regierungen – wie der syrischen – aufmerksam gemacht: “By giving people the power to share, we are starting to see people make their voices heard on a different scale from what has historically been possible. These voices will increase in number and volume. They cannot be ignored.” Nun stellt sich jedoch immer dringender die Frage nach der Glaubwürdigkeit dieser Aussage, da syrische AktivistInnen und Komitees seit Monaten von der plötzlichen Schließung ihrer Facebook-Seiten berichten.
Von meist unangekündigter Schließung betroffen sind unter anderem die Seiten dutzender Komitees der LCCs (Local Coordination Committees; deutsch: Lokale Koordinationskomitees). Die Komitees wie z.B. das LCC in Kafranbel nutzen Facebook als Medienzentrum, um Nachrichten über die Revolution zu verbreiten, Todeszahlen zu dokumentieren sowie Sicherheitsanweisungen an die Bevölkerung weiterzugeben. Die Durchsetzung der syrischen Gesellschaft mit regimetreuen Spionen gestaltet öffentliche Debatten vielerorts weiterhin schwierig und gefährlich, sodass die Seiten der LCCs den zentralen Zufluchtsort für AktivistInnen darstellen. Zudem ist eine unabhängige, „rein von außen“ erfolgende Berichterstattung über die Geschehnisse in Syrien seit Langem unmöglich geworden.
Die Seiten der Komitees nehmen daher eine zentrale Rolle in der detaillierten Berichterstattung und damit auch Geschichtsschreibung über die Syrische Revolution ein. Jedoch helfen die Facebook-Seiten auch bei der juristischen Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen. So stellen die dokumentierten Berichte über Verbrechen die zentrale Informationsquelle für Menschenrechtsorganisationen wie dem Syrian Network for Human Rights (FB bzw. Website) oder dem Violations Documentation Center (VDC) dar. Die Aufzeichnungen der Menschenrechtsverletzungen können helfen, um KriegsverbrecherInnen in einem möglichen post-Assad Syrien zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn jene Facebook-Seiten geschlossen werden, geht also eine zentrale Informations- und Dokumentationsquelle verloren!
Beispiele für die Schließungen von Seiten der LCCs sind jene von Kafranbel und des LCC in Daraa al-Mahatta (Südsyrien). Letztere hatte zur Zeit der Schließung 42.000 likes von Facebook-NutzerInnen. Über drei Jahre hinweg hatten die AktivistInnen dort unter anderem Fotos von Leichen gepostet. Ausschlaggebend für die Schließung der Seite war jedoch das Bild von Fadi Badr al-Miqdad, welcher von der Syrischen Armee getötet wurde. Das Foto stammt allerdings aus seinen Lebzeiten. Es stellt sich also die Frage, warum die Seite ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt gelöscht wurde. Eine mögliche Erklärung wären die Nutzungsbedingungen von Facebook, nach denen jeder Nutzer, welcher glaubt, ein Bild oder Kommentar würde die sozialen Standards von Facebook verletzen, dieses melden kann. Jenes kann zu einer Löschung von Inhalten und ganzen Seiten führen. Die pro-Assad Syrian Electronic Army (SEA), eine Organisation von regimetreuen Hackern, hat sich öffentlich dazu bekannt, strategisch Seiten z.B. von LCCs zu melden, um deren Schließung herbeizuführen. Auch SecDev (eine NGO, die mehrere digital-security Initiativen in Syrien durchgeführt hat) verweist auf diese Strategie der SEA. Obwohl Facebook betont, dass nicht die Quantität der Meldungen für eine Schließung ausschlaggebend sei sondern allein die Qualität, eröffnet sich hier ein Dilemma für das Soziale Netzwerk, mit weitreichenden Folgen für die LCCs.
Laut Richard Allan, dem Leiter der „Public Policy“-Abteilung von Facebook für Europa, dem Mittleren Osten und Afrika, müsse eine Seite nach mehreren Regelverstößen geschlossen werden, was nicht unbedingt immer die emotional favorisierte Lösung, jedoch unumgänglich sei. Joshua Gillmore von SecDev verweist darauf, dass Syrien der erste Fall sei, in dem ein Konflikt komplett über soziale Medien dokumentiert werde. Diese Situation sei auch Neuland für Facebook. Gillmore betont die komplexe Aufgabe, die Facebook zufalle: Den Konflikt zu überwachen, ohne sicher wissen zu können, was vor Ort passiert. Unter dem Gesichtspunkt, welche zentrale Rolle Facebook in der Dokumentation des Krieges in Syrien aus Sicht von AktivistInnen einnimmt, ist es jedoch dringend erforderlich, dass Facebook seine Praxis überdenkt – von frühzeitigen Warnungen vor der Schließung von Seiten bis hin zu Ausnahmeregelungen für AktivistInnen. Solange sollte sich Marc Zuckerberg auch mit dem Marketing seines Netzwerkes zurückhalten. Und hoffentlich bereitet Facebook der Geschichtsschreibung der Syrischen Revolution nicht bald ein unfreiwilliges Ende.
Anmerkung: Besonders bizarr wirken die Nutzungsbedingungen von Facebook auch dann, wenn Dschihadisten von ISIS Fahndungsaufrufe über gesuchte AktivistInnen frank und frei auf ihre Facebook-Seiten einstellen, die offen Menschen mit der Todesstrafe belegen. Dies geschah z.B. in Manbij, wie erst vor kurzem hier berichtet. Dabei ist unklar, ob der entsprechende Post von Facebook oder von den Autoren selbst entfernt wurde.
Helfen Sie mit, die junge syrische Zivilgesellschaft zu stärken!