Ghouta revisited

Die Syrien-Kommission der Vereinten Nationen legt ihren Bericht zur Belagerung und Eroberung Ost-Ghoutas vor. Er ist ein Zeugnis des Grauens.

Jede Offensive in Syrien wird immer auch von einem Propagandakrieg in den Sozialen Medien begleitet – pro-russische Trolle und die Kreml-eigenen Medien relativieren und leugnen die begangenen Menschenrechtsverbrechen. Eine bedrückend große Anzahl von Menschen lässt sich davon beeinflussen und schenkt den Lügen der Infokrieger Glauben.

Erst wenn der Lärm des Krieges längst verstummt ist, kommen nach und nach unabhängige Menschenrechtsorganisationen und UN-Institutionen mit ihren finalen Berichten über die Ereignisse an die Öffentlichkeit. Der Schaden der Desinformation ist dann längst angerichtet. Diese neuen fundierten Berichte werden dann kaum noch aufgegriffen, weil die Öffentlichkeit sich längst anderen Themen zugewandt hat und erreicht kaum einen von denen, die sich von der Propaganda der Krieger haben einlullen lassen.

Eine akribische Rekonstruktion
Gestern hat die Syrien-Untersuchungskommission der Vereinten Nationen ihren Bericht über die „Belagerung und Rückeroberung Ost-Ghoutas“ vorgelegt. Auf 23 Seiten beschreibt das Gremium akribisch den Ablauf der Ereignisse in der belagerten Enklave, insbesondere während der finalen Offensive der syrischen Armee  zwischen Februar und April dieses Jahres. Dafür hat sie 140 Zeugen vernommen, Foto- und Videomaterial, medizinische Unterlagen und Satellitenbilder ausgewertet. 

Die Kommission konstatiert, dass sowohl des Assad-Regime und seine Verbündeten als auch die aufständischen Milizen Kriegsverbrechen begingen. Dass es beiden Seiten darum gegangen sei, die Zivilbevölkerung im Gebiet ihres Gegners zu terrorisieren, indem sie sie willkürlich beschoss. Jedoch stellt der Bericht – anders als manch Berichterstatter damals – keine falsche Äquidistanz zwischen beiden Kriegsparteien her, welche die Realität in Ost-Ghouta verzerren und die Verbrechen des Regimes relativieren würde. Denn so abscheulich auch das Vorgehen der islamistischen Aufständischen war: Die Zahl der zivilen Todesopfer ist ebenso wie die Masse der Kriegsverbrechen mehr als ungleich verteilt.

Rot markiert Orte in Ost-Ghouta und Ost-Damaskus in denen allein zwischen dem 6. und 27. März schwere Beschädigungen durch Luftangriffe und Beschuss angerichtet wurden. Gelb markiert leichtere Beschädigungen. Quelle: Unitar/Unosat

Ein kleiner Ausschnitt des Horrors
Angesichts der Brutalität mit der dieser Kampf geführt wurde, stellt sich die Frage, welche all der genannten Verbrechen hängen bleiben. Welche sollten hervorgehoben werden, so dass sie nicht in der schieren Masse von Vergehen einfach untergehen?

Folgendes ist nur ein kleiner Ausschnitt des Horrors, den die UN-Kommission beschreibt:

– Die Abriegelung von Ost-Ghouta seit 2013 war die „am längsten anhaltende Belagerung der jüngeren Geschichte“. Länger als Sarajevo. Die Ablehnung von UN-Gesuchen, Hilfsgüter nach Ghouta liefern zu dürfen, wurde zur Routine. Wurden doch welche genehmigt, wurden lebensnotwendige Güter zuvor vom Regime entfernt.

– Die Kommission geht aufgrund der Art, Intensität und Häufigkeit von Angriffen auf Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen davon aus, dass diese gezielt und systematisch angegriffen wurden. Sie notiert zudem, dass diese Angriffe auch weitergingen, nachdem die UN Russland und dem Regime die Koordinaten von Gesundheitseinrichtungen zur Verfügung gestellt hatte.

– In einem Entwurf des Berichts gab es auf 7 Seiten ausführliche Schilderungen und Zusammenstellungen zu 6 Einsätzen von Chemiewaffen durch das Assad-Regime und Verbündete – im Bericht selbst sind nun aber nur noch 3 Fälle in 3 knappen Absätzen beschrieben. Die Untersuchungen dazu seien noch nicht abgeschlossen, heißt es dazu von den Ermittlern.

Bergungsarbeiten nach einem mutmaßlich russischen Luftangriff auf von Adopt a Revolution unterstützte Untergrundschulen, die zu diesem Zeitpunkt als Luftschutzkeller fungierten.

– Der Bericht rekonstruiert auch den tödlichen Angriff auf den Luftschutzkeller unserer Partnerschule in Erbin am Abend des 19. März. Bei dem Bombenangriff – höchstwahrscheinlich mit einer bunkerbrechenden Waffe durch die russische Luftwaffe – sind mindestens 17 Kinder ums Leben gekommen. Die Kommission notiert noch mehrere weitere Fälle, in denen Keller bombardiert wurden und zahlreiche Zivilisten starben – so etwa in Beit Sawa, wo ein ganzes Gebäude kollabierte und 41 Frauen und Kinder im Keller darunter begrub. Auch diese Art von Luftangriffen auf von Zivilisten bewohnte Gebiete nennt die UN „systematisch“.

– Die Kommission beschreibt eindrücklich, wie die Menschen anderthalb Monate ohne Sanitäranlagen in Kellern ohne Belüftungssystem ausharrten, um sich vor den Bomben zu schützen – während sie nicht genug Nahrung hatten und jede Suche nach etwas zu Essen außerhalb der Bunker zu einem lebensgefährlichen Spießrutenlauf wurde. Und wie sich am 16. März in Kafra Batna viele nach der vermeintlichen Verkündigung eines Waffenstillstands erstmals trauten herauszukommen – woraufhin 70 von ihnen auf dem örtlichen Markt von einem Luftangriff massakriert wurden.

– Das, was großzügig „Evakuierung“ aus Ost-Ghouta genannt wurde, ist in den Augen der UN nichts anderes als die Vertreibung von Zivilisten – schon wieder ein Kriegsverbrechen.

– Auch heute – nach drei Monaten – sind 31.000 Zivilisten, die Ost-Ghouta über „humanitäre Korridore“ verlassen hatten, in Aufnahmeeinrichtungen „unrechtmäßig inhaftiert“.

Dass weitere schwerwiegende Kriegsverbrechen wie Folter (begangen durch beide Seiten) oder der Einsatz weiterer international geächteter Waffen wie Brandbomben angesichts der Schwere der vorgenannten Verbrechen gegen die Menschlichkeit geradezu beiläufig erwähnt werden, gibt einen weiteren Eindruck davon, wie brutal die Schlacht um Ghouta vonstatten ging.

Unter den Vertiebenen aus Ost-Ghouta sind zahlreiche unserer ProjektpartnerInnen. Einige von ihnen arbeiten bereits daran, in anderen Teilen Syriens neue zivile Projekte aufzubauen. Helfen Sie mit, stärken Sie die syrische Zivilgesellschaft mit Ihrer Spende!

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