Helfen wir dem UNHCR auf seiner Suche nach Syrien

Google und das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) suchen im Rahmen eines Webprojekts nach Syrien. Das ist ihnen mehr als misslungen, findet der Journalist Yassin Swehat, Mitbegründer des Magazins al-Jumhuriya, und hilft den Suchenden auf die Sprünge.

Im Jahr 2016 hielt Asma al-Assad im Rahmen der syrischen Wissenschaftsolympiade eine enthusiastische Rede im Damaszener Opernhaus über den Fortschritt der Bildungsinitiative, die sie seit 2006 unterstützt. Sie schloss damit, dass dieser Fortschritt Optimismus verbreite und mit dem dunklen Abschnitt der gegenwärtigen Lage in Syrien breche. Wegen ihrer rühmenden Phrasen gingen die Aufnahmen der Rede im Netz viral. Ein Satz („Wie weit haben wir es geschafft“) wurde zur Zielscheibe für zahlreiche satirische Videos, die die rosige Rhetorik und die sture Gleichgültigkeit verspotteten, die Asma al-Assad gegenüber der desaströsen Lebensrealität von Millionen syrischen Kindern an den Tag legte. Kinder, die jeder Art Zugang zu Wissenschaft oder Wissenschaftsolympiaden beraubt wurden, ganz zu schweigen von den einfachsten Grundlagen eines würdevollen Lebens.

Vor ein paar Wochen entschied der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR), sich auf „die Suche nach Syrien“ zu machen – mithilfe einer Website, die man in Kooperation mit Google entworfen hatte. Nach einer Einleitung, die die Situation in Syrien vor „dem Krieg“ zeigen soll, beginnen diverse Statistiken das Elend und das Ausmaß der Zerstörung zu beschreiben, die Syrien seit über sechs Jahren heimsuchen.

Zensur? Schwamm drüber 

“Searching for Syria” ist eine visuell eindrucksvolle Website, die offensichtlich nach demselben Syrien sucht, von dem Asma al-Assad, Rami Makhlouf und der Rest der “Syria Holding”-Kleptokratie auf ähnliche Weise redet. Die ersten Bilder der Slideshow nehmen Bezug auf ein einst lebhaftes Land, in dem viele “ein ähnliches Leben wie Menschen in anderen Entwicklungsländern“ führten. „Musik, Mode und Sport gehörten zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen“, klärt die Website auf.

Die Ausführungen dieses ersten Teils, der uns zeigen soll, wie Syrien vor “dem Krieg” aussah, schließt mit einer Zusammenfassung der Top-Google-Suchanfragen des Jahres 2010: Arab Idol, Bodybuilding, Sommermode und Miley Cyrus. Im Rahmen seiner inbrünstigen Suche nach Syrien ist das UNHCR offensichtlich nicht über die zahlreichen Webseiten gestolpert, die in diesem Jahr zensiert wurden. Darunter Facebook, YouTube und Blogspot (zwei Anbieter, die sich übrigens im Besitz von Google befinden), sowie viele andere Foren und Webseiten, die zu syrischen oder internationalen Menschenrechtsorganisationen gehören, sowie natürlich alle oppositionellen syrischen Webseiten.

Auch hat UNHCR nicht herausgefunden, dass Organisationen wie Reporter ohne Grenzen Syrien in ihren Rankings in Sachen Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit wiederholt auf den letzten Plätzen einordneten – Seite an Seite mit den üblichen Verdächtigen wie Burma, Laos, Sudan, Nordkorea, Saudi-Arabia, Libyen, Iran, Kuba und Somalia. Das UNHCR scheitert auch daran, die Namen von dutzenden Journalisten, Bloggern und einfachen Bürgern zu finden, die wegen ihrer Onlineaktivitäten inhaftiert wurden – auf Grundlage absurdester Gesetze wie jenem, das die „Verbreitung von Falschnachrichten, die den Geist der Nation untergraben und das Nationalgefühl schwächen“ verbietet (Syrisches Strafgesetzbuch, Artikel 286). Einige dieser Gefangenen erhielten deshalb Strafen von bis zu sieben Jahren. 2009 verhafteten die syrischen Behörden etwa die 18-jährige Bloggerin Tall al- Malouhi, deren Verbleib bis heute unklar ist.

Nichts von Syrien gefunden – außer der gehobenen Mittelschicht

Auf die Top-Google-Suchanfragen folgen weitere Informationen über das Syrien vor „dem Krieg“. So betont man etwa Syriens Status als Zentrum der Künste und der Kultur seit 3.000 v.Chr., notiert Syriens Ernennung zur arabischen Kulturhauptstadt 2008, das Konzert der britischen Band Gorillaz in der Zitadelle von Damaskus im Juli 2010 und den während der 2000er florierenden Tourismussektor. Dann lädt man uns dazu ein, Nadia kennenzulernen, deren Familie eine Plantage mit Frucht- und Nussbäumen besaß. Zusätzlich erklärt man, dass Videos des FC Barcelona unter Syrern auf YouTube populär waren. Der Fakt, dass YouTube in Syrien offiziell geblockt und nur mittels Proxy- und VPN-Software zugänglich war, bleibt unerwähnt.

Mit Ausnahme von Nadia scheint das UNHCR vom Syrien vor “dem Krieg” nichts gefunden zu haben, außer der gehobenen Mittelschicht, die in den wohlhabenden Vierteln von Damaskus lebt, Gorillaz-Konzerte besucht und ihren Urlaub in den von Vetternwirtschaftsgünstlingen unterhaltenen Fünf-Sterne-Ferienresorts verbringt.

Ist es unverschämt, vom UNHCR zu fordern, einen Blick in die Daten anderer UN-Institutionen zu werfen? Dies würde einem eine andere Realität eröffnen, als diese rosarote Augenwischerei. Womöglich könnten sie so Informationen auftreiben, die weitaus relevanter für weit größere Teile der syrischen Bevölkerung sind. Ich möchte an dieser Stelle zwei Beispiele dafür nennen, wohin diese Daten einen führen könnten.

Fakten, die nicht ins rosige Bild passen

2010 veröffentlichte das UN-Programm für menschliche Siedlungen (UN-HABITAT) einen Entwurf für eine nationale Wohnungsbau-Strategie. Diese notiert, dass der informelle Wohnungsbau in Syrien zwischen 1994 und 2010 um 220 Prozent zugenommen hat. Drei Jahre zuvor hat das offizielle syrische Zentralbüro für Statistik diese Zahl aufgeschlüsselt.

Ihr Bericht legt nahe, dass 50 Prozent des syrischen Wohungswesens informell sind, dass 45 Prozent aller Einwohner von Damaskus und 35 Prozent der Aleppiner in Elendsvierteln leben. Vergliche man die Lage dieser Viertel auf der Landkarte mit jenen Gebieten, die in den letzten Jahren am heftigsten von den Fassbomben betroffen waren, so fände man eine nahezu perfekte Übereinstimmung. Diese Teile des Landes lagen aber offensichtlich ebenso wie die Fassbomben selbst außerhalb des Suchradius des UNHCR.

Das andere Beispiel ist eng verknüpft mit dem erstgenannten. Die Rede ist von der sozioökonomischen Katastrophe, die zwischen 2006 und 2009 in der Jazira-Region wütete.
Harsche Regierungsmaßnahmen gegen den Landwirtschafts-und Nutztiersektor, die damals im Rahmen der “Liberalisierung” der syrischen Wirtschaft vorangetrieben wurden, trafen auf eine schwere Dürre. Die Maßnahmen der Regierung nutzten den Interessen und Zielen der herrschenden Oligarchen-Klasse, die „Reformen“ fokussierten sich darauf, Anreize für Banken, Holding- und Investmentgesellschaften, Versicherungsfirmen, Immobilien- und Luxustourismusprojekte zu schaffen. Es war die perfekte Gelegenheit für eine neue Kleptokratie, den von ihr über die Jahrzehnte angehäuften obszönen Reichtum zu investieren, der sich in den Händen der Söhne ehemaliger Offiziere und Regierungskader konzentrierte.

Katastrophale Wirtschaftsreformen

Bevor er zu einem bekannten Namen in den Hallen von UN und Weltbank wurde, war Abdullah al-Dardari als stellvertretender Premierminister für Wirtschaft für die Umsetzung dieser „sozialen Marktwirtschaft“ verantwortlich. Während seiner Amtszeit wurde die Subventionierung von Treibstoff und Futtermittel aufgehoben, was – laut UN-Statistiken – zu einer Verdopplung der Preise führte und der Land- und Viehwirtschaft einen tödlichen Stoß versetzte. An dieser Stelle gilt es zu notieren, dass Dardari kürzlich eine Beraterposition für den “Wiederaufbau” in Syrien antrat, nachdem er als stellvertretender Exekutivdirekor der UN-Regionalkommission für Westasien (UNESCWA) gearbeitet hatte.

Die katastrophalen Konsequenzen dieser Wirtschaftspolitik haben alle Syrer betroffen, waren jedoch besonders schädlich für die dürregeplagte Jazira-Region, die ökonomisch weitgehend von der Landwirtschaft abhängig war. In den Provinzen Hasakah, Deir ez-Zor und Raqqa betrafen sie 130.000 Einwohner direkt, 80.000 verloren ihren gesamten Lebensunterhalt. Dutzende Dörfer und Städte in dieser Region wurden komplett verwüstet. Zehntausende Menschen zog es in die Armutsgürtel von Damaskus und Aleppo, wo sie Zuflucht in Zelten, Elendsvierteln und hastig errichteten Behausungen suchten. Der UN ist diese Katastrophe sicherlich bewusst, ihre Statistiken über die von ihr organisierte Nothilfe und die verteilten Essensrationen sind noch immer frei zugänglich. Die syrische Regierung nutzte diese Hilfe im Übrigen schamlos aus, dreist nahmen ihre Funktionäre in der betroffenen Region an der Verteilung der Güter Teil, als wären sie Sachpreise oder königliche Füllhörner anlässlich eines Nationalfeiertags. Die Staatsmedien und die Syrische Nachrichtenagentur Sana haben ihre Archive mit diesen Bildern gefüllt – wenngleich sie weniger glamourös waren, als das Gorillaz-Konzert in der Zitadelle.

Der Wiederaufbau, bei dem Abdullah al-Dardari gelegentlich berät, wird durch Recherche gestützt, die sich nicht sonderlich von der selbstvergessenen Suche des UNHCR „nach Syrien“ unterscheidet.

Grundlose Proteste gegen niemanden

Nach dieser ordnungsgemäßen Einführung in „das Syrien vor dem Krieg” widmet sich die Website der Frage, was in Syrien passiert. Die Sektion wird mit einem Zitat des UN-Hochkommissars, Filipo Grandi, eröffnet, der feststellt, dass die Syrienkrise die „größte humanitäre Katastrophe und Flüchtlingskrise unserer Zeit“ ist. Kurz erarbeitet man sich dann, dass was 2011 als friedlicher Protest begann rasch in einen tödlichen Konflikt abglitt. Angesichts dessen, was die Website kurz davor über die wundervolle Vorkriegssituation erzählt, dürfte jemand, der sich in Sachen Syrien nicht auskennt – und für solche ist die Seite konzipiert – ins Stocken geraten. Warum und gegen wen wurde da wohl protestiert? Gegen Nadia, deren Familie eine Nussbaumplantage besaß? Oder womöglich doch gegen eine andere Familie, deren Plantage das gesamte Land umfasste und die Mehrheit seiner Bevölkerung wie Leibeigene behandelte? Weder im “historischen” Hintergrund noch in der “Was passiert in Syrien”-Sektion findet der Besucher irgendeinen Bezug zur antidemokratischen und unfreien Realität in Syrien, nichts über das Ausplündern des Landes, nichts über Repression, willkürliche Verhaftungen oder die sich verschlechternde Lage der Arbeiterklasse.

Dann präsentiert die Webseite eine Uhr, die nicht nur die Jahre und Monate zählt, die der Krieg bereits währt, sondern gar die Tage, Minuten und Sekunden! Wie konnte das UNHCR genau bestimmen zu welcher Sekunde der „tödliche Konflikt” begann?

Kriegsverbrechen ohne Täter

Der folgende Abschnitt soll Daten und Informationen präsentieren, die das Ausmaß der humanitären Katastrophe beschreiben. Solche Statistiken sind wichtig und bedrückend, doch auch sie sind jeden Kontexts beraubt, als wären die Menschen Opfer eines Hurricane, eines Erdbebens oder einer Flut geworden. Es gibt keinen Bezug zu den Verantwortlichen, keinen zum systematischen Bombardement von Zivilisten oder zu den Gefängnissen, den Foltertoten, Massakern oder Vertreibungen. Für Flüchtlinge liefert man uns eine Definition und eine Beschreibung des Umfangs der Fluchtbewegungen – nur um uns rasch zu versichern, dass eine großer Anteil dieser Leute aber professionell ausgebildet worden sei, dass es Webentwickler, Mikrobiologen und Athleten wie Yusra Mardini unter ihnen gibt. Dann kommt erneut Filip Grandi daher, der uns versichert, dass Flüchtlinge in ihren Aufnahmeländern einen “positive Beitrag” leisten. Schließlich erklärt man, dass Flüchtlinge großartige Dinge erreicht haben… wie Einstein!

Die syrischen Flüchtlinge, so heißt es dann, sind mehrheitlich in den Nachbarländern untergekommen. Man geht ins Detail, erklärt, dass die meisten Syrer eher in urbanen Orten, und nicht in Flüchtlingslagern leben. Der jordanische König Abdullah II fragt: “Wenn eine Mutter mit Kind über die Grenze kommt, was sollen wir dann tun?” Man gibt uns keine Antwort auf diese Frage seiner Hoheit. Die Suche nach einer Antwort im Alltag syrischer Flüchtlinge in Jordanien, oder in den Leben derer, die im Rukban-Camp gestrandet sind, gehört nicht ins Repertoire dieser „Suche nach Syrien“. Schlussendlich bitten man jene, die “Syrien gefunden” haben, für syrische Flüchtlinge zu spenden, für sie einzutreten oder ihnen als Freiwillige zu helfen.

Aus Protest gegen das Narrativ, das diese Webseite verbreitet, haben syrische Aktivisten und zivilgesellschaftliche Organisationen einen Protestbrief an Filippo Grandi, den Hochkommissar für Flüchtlinge, gesendet. Zumindest erzählt uns die Webseite nicht, dass Syrien sich glücklich schätzen könne, einen so jungen und gebildeten, fließend Englisch sprechenden Führer zu haben – anders als viele westliche Medien, die uns jahrelang immer wieder daran erinnerten. Auch gratuliert sie nicht der First Lady für ihr ziviles Engagement und ihr Werben für Wissenschaft und Innovation. Soweit treibt es die Seite dann doch nicht, wenngleich es schwer fällt, sich beim Lesen nicht ständig an den „Wie weit haben wir es geschafft“-Diskurs zu erinnern. Tatsächlich wäre es angemessener einen anderen „bemerkenswerten“ Führers, Muammar Gaddafi, zu zitieren, der einmal sagte: „Wer seid ihr?“

Dieser Beitrag erschien zu erst im syrischen Onlinemagazin al-Jumhuriya („Die Republik“) – wir haben ihn hier mit freundlicher Genehmigung des Autors ins Deutsche übertragen.