»Ich hoffe, dass die Leute endlich über die Oberfläche hinausdenken«

Sara ist eine linke syrische Dissidentin und Frauenrechtlerin. Ein Gespräch über Frauen in der syrischen Revolution, emanzipatorischen Aktivismus an konservativen Orten und Linke, die die Assad-Diktatur verteidigen.

+++ Dieses Interview gehört zu unserer Serie “Syriens Linke – Gespräche über die Revolution” +++

Wie wurdest du politisiert?

Ich war vor der Revolution kein besonders politisches Wesen. Aber ich hatte immer eine Neigung zur Solidarität mit den schwächsten Gliedern der Gesellschaft – darunter die politischen Gefangenen. Meine eigene Familie rangiert zwischen unterer Mittel- und Unterschicht. Mit dem Beginn der Revolution habe ich einige linke Persönlichkeiten kennengelernt. So habe ich dann auch erfahren, was sie geleistet haben und welch hohen Preis sie dafür etwa in den Gefängnissen bezahlen mussten. Was sie durchlebt hatten, führte aber auch dazu, dass sich viele in sich selbst zurückzogen. Einige von ihnen wurden zu Symbolen, doch die Repression die sie so lange überlebt hatten, führte auch zu ihrer Marginalisierung.

Warum hast du an der Revolution teilgenommen?

Wir alle waren nicht zufrieden mit dem Regime. Ich bin eine durchschnittliche Syrerin gewesen. Vielleicht habe ich mich ein klein wenig mehr für Politik interessiert als viele meiner Freunde. Auch mein Vater war zwar nicht politisch aktiv, interessierte sich aber sehr dafür. Ganz automatisch haben wir das Regime wegen der alltäglichen Unterdrückung und Ungerechtigkeit gehasst. Die Sicherheitsdienste – das war eine kollektive Phobie.

Als die Revolution in Tunesien losging, da waren unser aller Augen auf dieses Land gerichtet. Dann griff die Bewegung auf Ägypten über, und auch diese Ereignisse haben wir tagtäglich verfolgt. Doch selbst als dort die Herrschaft der alten Despoten ins Wanken geriet, konnte sich in Syrien kaum einer vorstellen, dass wir zu einer ähnlichen Bewegung fähig wären. Die Furcht saß zu tief. Als wir uns dann auf der Straße wiederfanden, um zu protestieren, da waren wir von uns selbst überrascht.

Was geschah dann?

Die meisten Frauen auf den ersten Demos, die ich besucht hatte, waren Mitglieder eines kommunistischen Verbandes. Das war in Salamiya, einer mittelgroßen Stadt zwischen Hama und Homs. Ich begann dann mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wir haben uns vor den Demonstrationen getroffen, diskutierten täglich über Politik und gaben Erklärungen zu den Ereignissen heraus. Ich habe den Drucker von mir zu Hause geholt und begann für sie zu drucken.

Nach einer Weile habe ich dann auch andere politische Gruppen kennengelernt. So traf ich Abu Tareq, der eine Art Mentor für mich wurde, und ich begann mich mehr und mehr in Bereiche abseits der Demonstrationen einzubringen; die Organisation humanitärer und medizinischer Hilfe für Verletzte und Gefangene. Diese Arbeit war so wichtig und geheim, dass die Bewegung mich von den Demonstrationen wegholte, damit ich nicht festgenommen werden würde. Als Abu Tareq dann in Salamiya vom Geheimdienst gesucht wurde, sind wir nach Damaskus gezogen und meine Aufgabe war es, ihm eine geheime Wohnung zu besorgen, sodass wir unsere Arbeit dort fortsetzen konnten.

Durch die Menschen, denen ich so im Laufe dieser Jahre begegnet bin, habe ich gelernt, was meine Fähigkeiten sind. Sie haben mir die Politik und all ihre Schattierungen gezeigt. Ich habe gelernt was es heißt, links zu sein, habe viel gelesen. Und wir haben politische und humanitäre Arbeit zusammen gemacht bis wir dann 2014 eine Organisation gründeten, um das Humanitäre besser organisieren zu können. Aber bis heute ist unsere Arbeit im Grund politisch, mit einer starken humanitären Seite.

Was bedeutet es denn, links zu sein?

Ich denke wir sollten die Linke in ihrem Ursprung vor allem als eine Kraft sehen, die gegen jegliche Formen der Unterdrückung kämpft. Die Linke steht auf der Seite der Unterdrückten, egal, wo diese sich befinden.

In Hinblick auf die Position vieler westlicher und auch arabischer Linker gegenüber den Ereignissen in Syrien kommen einem da Zweifel…

Gerade in der traditionellen Linken gibt es viele, die das Regime für fortschrittlich halten. Das sind Leute, die Fidel Castro bis heute nur als Revolutionär verklären. Da ist es auch ganz natürlich, dass sie Bashar al-Assad glorifizieren. Sie halten ihn für fortschrittlich, weil er eine Krawatte trägt und sich einer nationalen Rhetorik bedient. Bashar inszeniert sich – wie sein Vater – als Verteidiger der „arabischen Einheit“ und größten Unterstützer der palästinensischen Sache, der sich mit imperialistischen Mächten konfrontiert sehe. Aber das Regime hat diese Rhetorik vom Sozialismus und arabischen Nationalismus als mediales Instrument benutzt. Auf der Handlungsebene hat es solchen Grundsätzen entgegengearbeitet.

Jene, die das Regime dennoch als fortschrittlich ansehen, gehören meist zwei Gruppen an: Menschen, die nichts über die Situation in Syrien wissen, eine verengte Perspektive haben und nichts außer den religiösen Eiferern sehen. Und dann ist da die arabische Linke, die oft selbst sehr autoritär ist.

Ich hoffe wirklich, dass die Leute endlich über das Kopftuch und ganz allgemein die Oberfläche hinausdenken. Was mich sehr verletzt, ist, dass wir heute alle einfach nur noch als Muslime wahrgenommen werden. Etwas, das zudem immer auch gleich mit einer Anschuldigung verbunden ist. Selbst Linke haben oft so ein primitives Verständnis davon und glauben Modernität und Rückschrittlichkeit dadurch unterscheiden zu können, ob einer Arak trinkt.

Wie würdest du das Assad-Regime beschreiben?

Als faschistisch. Es ist eine ungerechte autoritäre Diktatur. Das sind die zentralen Eigenschaften seiner Politik. Und doch gibt es heute viele Linke, die in vollem Bewusstsein, dass es sich um eine Diktatur handelt, sagen, dass wir auf Seite dieser Autokratie stehen müssten, gegen das, was sie religiösen Faschismus nennen. Dieser Diskurs ist sehr gefährlich. Ich stehe auf keiner Seite des ganzen faschistoiden Spektrums, ob IS, Hizbollah, Nusra oder Assad-Regime. Ich werde nicht akzeptieren, dass ich zwischen ihnen unterscheiden oder gar wählen soll. Das Ausmaß der Verbrechen, die das syrische Regime am syrischen Volk begangen hat, übertrifft quantitativ die Verbrechen aller anderen Kräfte. Ich fürchte jene, die es von diesen abscheulichen Taten reinzuwaschen versuchen.

Der syrische Konflikt scheint sich in vielerlei Hinsicht auch klassischen linken Erklärungsmustern zu entziehen.

Syrien widerspricht grundsätzlich einfachen Erklärungsmustern. Die Revolutionäre in Syrien etwa durchdringen alle Schichten der Gesellschaft. Die Arbeiterklasse, die Mittelklasse, das Bürgertum. In jeder dieser Klassen ist ein Teil mit der Revolution, ein anderer mit dem Regime. Zudem hat der Konflikt auch alle konfessionellen Gruppen durchdrungen. Man kann hier keine Analyse zugrunde legen, die die Sunniten gegen die Minderheiten stellt. Diese Analyse geht nicht auf. Zur gleichen Zeit kann man eben auch nicht sagen, dass sich in dieser Revolution die Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie gestellt hat. Denn ein großer Teil der Arbeiterklasse stirbt bei der Verteidigung des Regimes. Die Armen in Syrien töten heute die Armen. Zur gleichen Zeit hat man wohlhabende Geschäftsmänner, die sich auf Seiten des Regimes gestellt haben, und jene, die ihr Geld an die Revolution gegeben haben. Auch ist die sozioökonomische Seite des Konflikts nur eine von vielen. Abstrakte Ideale wie „Würde“ und „Freiheit“ waren von ungeheurer Bedeutung.

Du bist in Sachen Frauenrechten sehr aktiv. Warum waren die Frauen im Aufstand oft nicht sichtbar?

Von Anfang an gab es da immer große regionale Unterschiede. Aber ja, Frauen hätten viel sichtbarer sein sollen – gerade am Anfang. In den Gegenden, in denen es einen hohen Anteil gebildeter Frauen gibt, war ihre Teilnahme größer als andernorts. Denn dort hatten sie die freie Entscheidung, teilzunehmen oder nicht. Frauen, deren Umgebung unterstützend war, nahmen teil. Frauen, deren Familien keine Angst davor haben, dass sie verhaftet werden könnten oder sexualisierter Gewalt ausgesetzt würden, konnten teilnehmen. Am Anfang der Revolution habe ich vor allem diese gebildetere Schicht von Frauen auf den Demonstrationen gesehen, aber mit der Zunahme der Gewalt und der Bewaffnung, haben auch andere Schichten teilgenommen. Frauen haben sich ebenfalls bewaffnet, Frauen haben Gesuchte und Verfolgte versteckt. Sie haben heimlich humanitäre Hilfe geleistet. Es bleibt vor allem die Politik, in der die Frauen unterrepräsentiert waren – in allen Phasen der Revolution. Ich bin eine der wenigen, die in diesem Bereich aktiv sind. Ich habe aber nie zu spüren bekommen, dass ich eine Frau bin.

Ruinen in Beit Sahem

Eine Frage, die immer wieder aufgeworfen wird: Wieso sehen wir auf den Bildern und Videos der syrischen Demonstrationen kaum Frauen – anders als in Tunesien oder Marokko?

Wir können Syrien einfach nicht mit Tunesien vergleichen. Das Regime war ein anderes und der Druck, der von den Sicherheitsbehörden ausgeht, war und ist ein anderer. Die zivile Bewegung in Tunesien, Marokko oder Ägypten hatte es schlicht einfacher. In Syrien war eines der Haupthindernisse für Frauen der Druck durch die Geheimdienste. Ein Beispiel: Die meisten der Frauen in meiner damaligen Gegend tragen – wie ich – kein Kopftuch, aber auf den Demos haben wir uns später alle verschleiert, teils gar den Niqab getragen. Das haben wir aus Sicherheitsgründen gemacht. Zudem hat das Regime zu einem großen Ausmaß sexualisierte Gewalt bis hin zur Vergewaltigungen als Instrument der Unterdrückung genutzt. Die Erniedrigungen, die Syrerinnen ertragen müssen, sind extrem. Auch im Gefängnis ist sexualisierte Gewalt Alltag. Somit muss man die Angst um die Frauen auch erst mal akzeptieren. Mancherorts haben sich Männer aber auch zusammengetan, um die Frauen auf den Demonstrationen zu schützen, damit sie weiterhin teilnehmen konnten. Oft gab es übrigens in eher konservativen Gegenden bei Fällen von sexualisierter Gewalt größeren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Als das Regime die Gewalt dann immer weiter eskalieren ließ, war das eine Zäsur: Viele machten Rückzieher. Dabei muss man immer auch sehen, dass Frauen ganz anderen Zwängen ausgesetzt sind, als Männer. Der Verhaftung des erwerbstätigen Lebenspartners etwa. Aber auch die Kindererziehung im Kontext von Krieg, Aktivismus und Verhaftung ist unglaublich kompliziert.

Du unterstützt ein Frauenzentrum in Beit Sahem, Süddamaskus. Warum habt ihr das gegründet?

Unsere Parole lautet: „Teilnahme ist Verantwortung und Teilnahme steht jedem zu“. Wir haben ja schon erwähnt, dass Frauen die Gruppe sind, die am wenigsten am öffentlichen Raum teilnimmt. Und die mangelnde Teilhabe ist der Grund für ihr mangelndes empowerment. Hieraus entstand also die Idee: Wenn ich möchte, dass die Frauen im öffentlichen Raum teilnehmen, muss ich Frauen zuerst ökonomisch unabhängig machen. Die Idee für das Zentrum entstand also aus einem der elementaren Anliegen der Revolution: Die Forderung des Rechts auf freie Entfaltung und eigene Entscheidungen für alle Gruppen der Gesellschaft.

Lass mich hier auf meine persönliche Erfahrung zurückgreifen: Bevor ich mit dem Studium fertig war, hat mein Vater sich in jede Entscheidung in meinem Leben eingemischt. Das ist normal in unseren Gesellschaften. Erst als ich mein eigenes Einkommen hatte, hatte ich mir das Recht zur Autonomie erkämpft. Als mein Vater gesehen hatte, dass ich eine respektierte Ingenieurin bin, begann sich unsere Beziehung zu verändern und aus einseitigem Befehlen wurde Austausch, Beratung und Dialog. Wenn du Frauen also ökonomisch befähigst, dann können sie sich emanzipieren.

Und diese Arbeit ist eben gerade in einer sehr konservativen Region, wie Süddamaskus, ungleich wichtiger, als in einer Stadt wie Salamiya, in der der Anteil gebildeter Frauen sehr hoch ist. Deswegen unterstützen wir Frauen in sehr geschlossenen Umgebungen. Ich denke, genau in diesen Kontexten muss man mit Menschen zusammenarbeiten und sie dabei unterstützen, vorwärts zu kommen.

Wie sahen die gesellschaftlichen Herausforderungen aus, vor denen ihr standet?

Die erste Hürde war es, Vertrauen aufzubauen. Ich komme aus einer religiösen Minderheit, trage kein Kopftuch und arbeite in einer Gegend, die sehr religiös ist. Die Gegend wurde auch oft aus genau der Gegend beschossen, in der ich damals lebte. Doch Abu Tareq und ich waren schon lange vor Gründung des Zentrums sehr engagiert in der Arbeit des lokalen Basiskomitees und so vertraute man uns bereits. Die unglaublich schwierigen Momente, die wir mit den Menschen durchlebt hatten, stärkten dieses Vertrauen weiter. Und so wurde uns in dieser konservativen Gegend der Zugang zu den Aktivistinnen gewährt. Die Arbeit mit dem Frauenzentrum setzte voraus, dass ich am Anfang keine Fragen stellte, sondern sie einfach arbeiten ließ und sie unterstütze, wo immer ich konnte. Die wichtigste gesellschaftliche Herausforderung lag bei den Frauen selbst. Die Frauen hatten nicht das Gefühl, dass sie in irgendeiner Weise wichtig seien – ob zu Hause oder in der Öffentlichkeit. Ein weiteres Hindernis waren die religiösen Autoritäten, die sich darüber lustig machten, dass Frauen lernen würden, ihre Rechte wahrzunehmen.

Aber wie habt ihr das überwunden?

Als wir die erste Ausstellung der in unserem Zentrum produzierten Materialien hatten, die dann an die lokale Bevölkerung verkauft wurden, haben die Menschen gesehen, dass unsere Arbeit auch für sie gesellschaftlichen Mehrwert haben kann. So haben wir uns zu einem Ort entwickelt, an dem am Anfang 25 Frauen registriert waren und heute mehr als 200 Frauen lernen wollen und wir gar nicht hinterherkommen, jene, die neu hinzustoßen, zu registrieren. Sie kommen mittlerweile sogar aus den Nachbargemeinden. Es gibt immer noch gesellschaftliche Grenzen, die wir nicht überwinden können. So können Männer nicht ohne Weiteres ins Zentrum kommen, aber inzwischen hatten wir sogar schon einmal einen männlichen Trainer. Es geht voran. Bleibt natürlich noch die Dominanz des religiösen Diskurses, die wir gegenwärtig nicht angehen können, weil diese Gegend einfach schon seit langer Zeit belagert ist und die Gesellschaft unter hohem Druck steht. Aber dies ist eine der Einschränkungen für eine tiefergehende, emanzipatorischere Arbeit. Mittlerweile unterstützen weite Kreise der Gesellschaft unsere Arbeit, anstatt sie zu bekämpfen.

Das Zentrum ist inzwischen wesentlich mehr, als lediglich ein Ort zur ökonomischen Ermächtigung, es ist ein sicherer Ort für Frauen, um sich auszutauschen und zu diskutieren. Sie haben begonnen, ehrlich über ihre politischen Vorstellungen zu sprechen. Ihre Angelegenheiten sind die Angelegenheiten der Region hier. Ich finde das ist eine der wichtigsten Entwicklungen überhaupt. Das heißt freilich nicht, dass jetzt alles ganz wunderbar wäre. Auf gesellschaftlicher Ebene steht uns noch sehr viel Arbeit bevor. Doch in der Situation, in der wir gerade feststecken, sind unsere Möglichkeiten einfach sehr limitiert. Der Druck und die Gewalt, die der Krieg erzeugt, sind einfach überfordernd. Da können wir nicht auf Konfrontationskurs mit den gesellschaftlichen Strukturen, den Shaykhs oder den Scharia-Gerichten gehen. So stark unsere Kritik an ihnen auch ist.

Wie blickst du in die Zukunft?

Wir müssen einsehen, dass die Revolution in Syrien enorme Rückschläge erlebt hat. Ich glaube, wenn es zu einem Wandel oder der Andeutung eines solchen kommt, dann wird auch die Depression, in der sich diese Menschen befinden, wieder verschwinden. Wenn aber nun der Zustand anhält, dass wir uns machtlos fühlen, dann kann auch der revolutionäre Geist nicht zurückkehren. Doch derzeit liegt die Entscheidung über Syriens Zukunft nicht bei den Syrern. Ich denke, dass Syrien sehr bald aus “Einflussgebieten” bestehen wird. Die Türkei, die Golf-Staaten, Russland, die Vereinigten Staaten, Jordanien – alle werden über die von ihnen kontrollierten proxies ihren direkten Einflussbereich absichern. Doch das kann keine Lösung sein, denn es bedarf einer politischen Entscheidung. Ich denke, dass die Struktur des Regimes sich auflockern wird. Auch wenn das Regime nicht gehen wird, so wird es nicht in seiner jetzigen Form bestehen bleiben können. Eventuell eröffnet das die Möglichkeit der Rückkehr für einige sowie die Chance, für unsere freiheitlich-demokratische Vision einzutreten.